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IV-Rente: Showdown am Bundesgericht um die 300-Millionen-Frage

IV-Rente: Showdown am Bundesgericht um die 300-Millionen-Frage

Eine neue Berechnungsmethode macht Geringverdienern Hoffnung, endlich eine faire IV-Rente zu bekommen – sofern sich das Bundesgericht über den Bundesrat hinwegsetzt.

Andrea Tedeschi

Am Versicherungsgericht Luzern hätte am Mittwoch die Verhandlung stattfinden sollen.

Bild: Dominik Wunderli

Er ist einer von vielen, doch sein Fall könnte die Schweizer Rechtsprechung entscheidend verändern. Ein damals 37-jähriger Anlageführer beantragte 2001 Leistungen bei der Invalidenversicherung (IV), weil er an Schulterschmerzen litt. Die Versicherung sprach ihm eine Rente zu, auf zwölf Monate befristet.

Weil die Beschwerden zunahmen, gelangte er ab 2012 wiederholt an die IV, erfolglos. Bis diese gestützt auf ein ärztliches Gutachten zum Schluss kam, dass für «einfach strukturierte, sehr leichte und wechselbelastende Tätigkeiten» eine 40-prozentige Arbeitsunfähigkeit bestehe und ihm eine Viertelsrente zusprach.

Wie üblich hatte die IV den sogenannten Medianlohn der zumutbaren Tätigkeit dem früheren Lohn gegenübergestellt. Ohne gesundheitliche Einschränkung hätte der Mann als Anlageführer 68’258 Franken pro Jahr verdient. Für die Berechnung der Rente ging die IV für die neue Tätigkeit von einem Medianlohn von 67’766 Franken aus, wie ihn gesunde Menschen erwirtschaften könnten. Gegen diesen Entscheid ging der frühere Anlageführer vor Gericht. Sein Anwalt argumentierte, dass sei diskriminierend für behinderte Menschen und verunmögliche einen fairen Zugang zu Invalidenleistungen.

Tatsächlich konnten Rechtsprofessoren in verschiedenen Gutachten nachweisen, dass die von der IV herangezogenen Löhne aus der Lohnstrukturerhebung (LSE) zu hoch seien und um mindestens 15 Prozent tiefer sein müssten. Die meisten gesundheitlich eingeschränkten Personen würden auf dem Arbeitsmarkt bis 17 Prozent weniger verdienen. Die Berechnungsmethode ist seit Jahren ein Politikum, alle Parteien kritisieren sie, von den Grünen bis zur SVP.

Bundesrat spart auf dem Rücken der Kranken

Der Bundesrat hat am 3. November 2021 festgelegt, dass er nichts ändern will. Dabei hatte sich eine überwiegende Mehrheit der Parteien, Kantone, Juristen und Verbände in der Vernehmlassung der letzten IV-Reform für eine neue Berechnungsmethode ausgesprochen. «Die Untätigkeit des Bundesrats ist ein Skandal», sagt Michael E. Meier, Sozialversicherungsrechtler an der Universität Zürich. Der Bundesrat setze sich über den Willen einer klaren Mehrheit hinweg und negiere die Realität, nur weil eine fairere Methode offenbar bis 300 Millionen mehr koste.

«Sogar das Bundesgericht attestiert seit Jahren, dass die LSE-Tabellen unpräzise sind und höchstens als Übergangslösung taugen. Sie würden ein neues Instrument begrüssen.»

Umso erwarteter war der Fall des früheren Anlagenführer, den Bundesrichter am Mittwoch hätten öffentlich beraten sollen. Zur grossen Überraschung annullierte das Bundesgericht sie einen Tag vorher.

Kenner des Dossiers gehen davon aus, dass den Ausschlag ein neues Berechnungsverfahren für Geringverdiener gab, das eine hochkarätige Arbeitsgruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, und Urban Schwegler von der Paraplegiker-Forschung Nottwil, seit Januar 2020 erarbeitet hatten. Ihnen standen kantonale Sozialversicherungsrichter, Vertreter der Suva, der IV und des Bundes, insbesondere des Bundesamtes für Statistik, zur Seite. Der Aufsatz zum Verfahren wird am Montag in der «Schweizerischen Zeitschrift für Sozialversicherungen und berufliche Vorsorge» publiziert.

Effektive Arbeitsunfähigkeit soll eindeutiger eruiert werden

Just am letzten Freitag konnte Riemer-Kafka die Arbeit dem Bundesgericht zustellen. Offenbar ist das Bundesgericht gewillt, das neue Verfahren zu prüfen. «Aufgrund der neuen Tatsachen, die sich durch die neue Tabelle ergibt, konnte das Bundesgericht gar nicht anders entscheiden», sagt Riemer-Kafka im Gespräch. Auch Christian Haag, der Anwalt des früheren Anlageführers, hatte am Montag nochmals eine Eingabe gemacht und sich auf die neue Grundlage bezogen.

Das Verfahren berücksichtigt die effektive Leistungsfähigkeit von körperlich beeinträchtigten Menschen. Anders als heute analysiert das Verfahren ihre körperlichen Funktionen auf eine reale Tätigkeit hin, zum Beispiel ob jemand noch knien, sitzen oder schwere Lasten über Kopf tragen kann. So kann die effektive Arbeitsunfähigkeit eindeutiger eruiert werden. Riemer-Kafka sagt:

«Sollte das Bundesgericht das Instrument als tauglich erachten, werden wir weitere Grundlagen zum Beispiel für psychisch beeinträchtige Menschen erarbeiten.»

Unter Fachleuten kommt der Entscheid des Bundesgerichts gut an. «Das Bundesgericht hat es jetzt in der Hand, gesundheitlich beeinträchtigten Menschen einen faireren Zugang zu Invalidenleistungen in Form einer beruflichen Eingliederung oder Rente zu ermöglichen», sagt Guido Bürle Andreoli, der sich bei Coop Rechtsschutz für eine neue Rechtspraxis einsetzt.

Auch Sozialversicherungsrechtler Michael E. Meier sagt: «Wenn die Bundesrichter mutig sind, nehmen sie die dringend nötigen Korrekturen jetzt vor.» Das würde den Druck auf das Bundesamt für Sozialversicherungen erhöhen, ihre bisherige Praxis trotz Mehrkosten zu ändern.

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