
«Kinder lernen am meisten von Kindern»


ZUR PERSON
Daniel Keller (Jahrgang 1960) ist in Schöftland aufgewachsen. Er absolvierte die Ausbildung zum Oberstufenlehrer und unterrichtete anschliessend 22 Jahre an der Volksschule, davon sieben Jahre an einer Gesamtschule. 2005 gründete er zusammen mit seiner Frau Estelle die private Tagesschule Wannenhof in Unterkulm. 2011 wurde der zweite Standorte in Wiliberg eröffnet. Daniel Keller ist Vater von 3 Kindern und hat inzwischen 7 Grosskinder. Er sei «Lehrer, Schulleiter und Unternehmer in einem», sagt er von sich. «Das geht nur mit einer tollen Frau!»
2011 wurde in Wiliberg nach Anfrage durch Schulpflege und Gemeinderat Wiliberg ein zweiter Tagesschul-Standort eröffnet. Für die Gemeinde ein Glücksfall: So konnte sie ihre Schule, die sonst hätte geschlossen werden müssen, erhalten. Die Gemeinde bezahlt die Schulgelder, damit die Kinder aus Wiliberg Kellers Privatschule besuchen können. Wir treffen ihn an einem sonnigen Septembermorgen zum Interview.
Herr Keller, was sind bleibende Erinnerungen an Ihre eigene Schulzeit?
Daniel Keller: Vor allem Erinnerungen an Freundschaften; auch solche, die dann längere Zeit im Leben eine Rolle gespielt haben. Und Lehrpersonen, von denen ich sehr viel profitiert habe.
Ihr Vater war selber Lehrer in Schöftland, wo Sie aufwuchsen.
Ja, an der Bezirksschule. Er unterrichtete Geografie, Geschichte und Deutsch. Meine Primarschulzeit war eine glückliche Zeit. Ich mochte es, Aufsätze zu schreiben. Mathematik dagegen war eher nicht mein Ding.
Was gab den Ausschlag, eine Privatschule zu gründen?
Ich unterrichtete 22 Jahre lang an der Volksschule, an verschiedenen Orten. Ende der 90er Jahre übernahm ich im Refental eine Gesamtschule von der 1. bis zur 5. Klasse. Das gefiel mir ausgesprochen gut, es war prägend. An einem Fest im August 2004 mit Lehrerkollegen kam die Idee auf, im Schulhaus Wannenhof, das damals leer stand, eine alternative Privatschule aufzubauen. Dabei war auch ein Geschäftsmann. Von ihm kam der Impuls, die Idee sofort umzusetzen. Schon im Dezember 2004 hat der Regierungsrat unser Konzept bewilligt.
Ein Jahr später sind Sie gestartet. Welchen Schwierigkeiten begegneten Sie im Lauf der Gründung?
Wir mussten genügend Leute überzeugen können, damit wir überhaupt starten konnten. Die finanzielle Herausforderung ist gross: Es braucht Personal, Gebäude, Schulbusse. Ich hatte das Glück, dass einige Kinder, die ich früher unterrichtet hatte, zu uns kamen. So konnten wir mit 14 Kindern starten.
Was sind Ihre wichtigsten Grundsätze?
Schon im Refental wurden Kinder zu mir geschickt, die besondere Bedürfnisse haben: Kinder mit sozialen Auffälligkeiten oder Kinder mit Lernschwierigkeiten beispielsweise. Es war von Anfang an klar, dass auf dem Wannenhof ebenfalls Platz für solche Kinder sein soll. Ein Grundsatz ist, dass vieles Platz hat. Es braucht an den Volksschulen wenig, damit die Kinder Schwierigkeiten bekommen. Und es braucht oft ebenso wenig, diesen Schwierigkeiten zu begegnen. Das Wichtigste ist, dass man als Lehrperson zu den Kindern eine Beziehung aufbauen kann.
Eine Kritik an unseren Schulen lautet, die Kinder würden inzwischen übertherapiert.
Das Kontrollieren nimmt überhand. Es wird immer früher und immer genauer hingeschaut. Man muss genau hinschauen, keine Frage. Aber vieles ist eine Frage der Entwicklung. Und die geht nicht immer so schnell wie es manche Leute gerne hätten. Kinder sind immer noch Kinder. Man weiss inzwischen, dass sie später nicht mehr können, auch wenn sie früher gefördert werden. Man sollte mit Frühförderung und ausserschulischen Coaching-Angeboten etwas entspannter umgehen.
Heute sind Eltern ungeduldiger?
Ja, schon die Kleinen sind mit einem Beurteilungsraster konfrontiert. Man kommt aber nicht zu mehr Leistung, indem man dauernd von Leistung spricht. Das freie Spiel kommt inzwischen zu kurz. Hier ist das noch möglich: Die Kinder können im Wald spielen, ohne dass die Lehrpersonen ständig alles vorgeben. Kinder lernen am meisten von Kindern.
Das Vertrauen in die Volksschulen scheint heute angeschlagen.
Ja, die Gesellschaft hat kein wirkliches Vertrauen mehr in das System. Man vertraut den eigenen Kindern nicht mehr, wenn man beispielsweise fordert, dass in Schulhäusern die Fenster nicht mehr geöffnet werden dürfen. Wir sollten wieder mehr Vertrauen haben in die Fähigkeiten der Kinder. Dabei braucht es Geduld: Das Gras wächst aber nicht schneller, wenn man daran zieht. Man soll etwas fordern, man soll nicht zu lasch sein – aber man soll den Kindern auch etwas zutrauen.
Die Schule ist auch ein Ort der ideologischen Auseinandersetzung: Man streitet sich darüber, was in der Volksschule nötig ist und was nicht.
Schule macht Freude – das muss man in erster Linie einmal unterstützen. Die Unterschiede sind enorm: Der eine kann schon lesen und schreiben, der andere kann noch nicht einmal die Schuhe binden. Aber der Spruch «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» ist vollkommen daneben. Man kann auch sagen: «Was Hänschen nicht kann, kann Hans meistens». Es braucht einfach die entsprechende Unterstützung. Wenn Kinder besonders aufnahmefähig sind, soll man diese Phasen nutzen. Wenn man merkt, dass nichts geht, arbeitet man lieber später weiter. Eine gewisse Flexibilität ist also absolut entscheidend.
Aber immer mehr Stoff aufladen – das funktioniert nicht?
Kinder können nicht immer mehr aufnehmen, das müsste auch die Pädagogik wissen. Man kann nicht immer mehr aufstocken. Klar: Medienkompetenz gehört heute dazu, ebenso der Umgang mit Computern und IT. Manche sagen, die Wandtafel sei schon auf Primarschulstufe veraltet; das ist völliger Blödsinn. Interaktive Wandtafeln werden überschätzt. Zumal Kinder heute schon viel Zeit vor Bildschirmen verbringen.
Wie ist bei Ihnen der Umgang mit Smartphones?
Die Kinder geben sie am Morgen ab und nehmen Sie am Abend wieder mit. Während des Unterrichts brauchen sie diese nicht. Sowohl im Schulhaus Wannenhof als auch in Wiliberg haben wir Computerstationen, wo die Kinder arbeiten können. Vorträge schreiben Kinder heute selbstverständlich am PC.
Zu Wiliberg: 2011 haben Sie dort ein zweites Standbein eröffnet; so konnte die Gemeinde ihre Schule erhalten. Wie kam es dazu?
2010 kam eine Arbeitsgruppe zu uns und fragte, ob wir Interesse hätten, in Wiliberg eine Aussenstation zu eröffnen, da die Schule sonst geschlossen werden müsse. Hier Hand zu bieten war mir sofort sympathisch; ich kannte Wiliberg, auch weil mein Vater als Inspektor im Kanton unterwegs war. Wir wussten aber, dass das nicht ganz einfach werden würde. Wir sind dann mit 16 Schülern gestartet.
Zurzeit sind es wieder 16 Kinder. Das ist untere Grenze. Ist der Standort gefährdet?
Wir versuchen nun, den Standort bekannter zu machen. Wiliberg ist der kleinste Ort im Aargau. Wichtig ist zu wissen: Wer in Wiliberg wohnt, dem wird die Tagesschule bezahlt. Die Gemeinde übernimmt die Kosten. Im Moment sind aber kaum Wohnungen in Wiliberg frei.
Aber gefährdet ist der Standort nicht?
Es ist so: Im Moment wird der Standort Wiliberg durch den Standort Wannenhof querfinanziert. Eine Schule mit 16 Kindern: Da geht die Rechnung nicht auf. Dadurch, dass wir auf dem Wannenhof sehr viele Kinder haben, geht es. Aber wir sind im Gespräch mit dem Gemeinderat Wiliberg. Längerfristig muss etwas geschehen. Für die Entwicklung des Dorfes wäre es sehr wichtig, dass die Schule erhalten bleibt. Insofern ist auch der momentane Auftritt an der MAG in Aarau als Standortmarketing zu verstehen.
Was macht eine gute Lehrperson aus?
Eine gute Lehrkraft weiss, wie wichtig es ist, zu den Kindern eine positive Beziehung aufzubauen. Sie ist präsent und weiss, was im Schulhaus passiert. Sie hat Humor und kann Grenzen setzen. Sie setzt sich durch und kann authentisch unterrichten. Sie spielt keine Rolle, sondern sie ist so, wie sie sich gibt. Wenn Lehrpersonen eine Rolle spielen, merken es die Kinder sofort.
Wie wichtig ist Tagesbetreuung?
Für mich war immer klar, dass die Schweiz Tagesschulen braucht. Als wir gestartet sind, waren für viele Eltern unsere Tagesstrukturen ausschlaggebend. Heute hat sich das ein bisschen verändert: Bei uns finden Kinder einen Platz, die nicht ganz pflegeleicht sind. Alle Kinder absolvieren übrigens drei kostenlose Schnuppertage. Wir machen keine Versprechungen, die wir nicht halten können – wir sind keine Zauberschule. Wir sagen dann, ob es passt oder nicht.
Müssen Sie auch Kinder ablehnen?
Das ist auch schon vorgekommen. Es geht auch um Vertrauen. Eltern, die ihren eigenen Kindern nicht vertrauen, sind oftmals schwierig.
Ihre Schule ist teuer – eine Familie, die zwei Kids zu Ihnen schickt, zahlt 46 800 Franken pro Jahr. Gibt es auch Leute, die ihre Kindern gerne zu Ihnen schicken würden, es sich aber nicht leisten können?
Das gibt’s, ja. In Einzelfällen übernehmen auch Gemeinden die Schulgelder, dann nämlich, wenn ein Kind an der öffentlichen Schule nicht adäquat unterrichtet werden kann.
Was ist das Wichtigste, das Ihre Schülerinnen und Schüler gelernt haben müssen, wenn diese Ihre Schule verlassen?
Abgehen davon, dass sie auf spätere Schulen gut vorbereitet sein müssen: Wir sind auch eine Lebensschule. Wie geht man miteinander um? Wie verbringt man Freizeit miteinander? Und dass die Kinder in ihre eigenen Fähigkeiten vertrauen, wenn sie uns verlassen.
