«Kultur? Boah, ne!» SRF baut Angebot auf Instagram und Youtube aus – wir haben es getestet

Wie viel Service public bietet SRF in Zukunft? Wie weit gehen die Abbaupläne von SRF-Direktorin Nathalie Wappler in der Kultur? Ein Flaggschiff wie «52 beste Bücher» streicht man aus dem Radioprogramm. Ausgerechnet bei starken TV-Sendungen wie «Sternstunde» und «Kulturplatz» will man sparen, und die sowieso schon fast verschwundenen Radiokonzertübertragungen sollen um nochmals 30 Prozent gekürzt werden. Die durch Corona gebeutelte Klassikszene heult auf, selbst Lucerne Festival bangt um die Sicht- bzw. Hörbarkeit seines sommerlichen Top-Events: Auch Fernsehen und Radio brachten das Festival in die Welt.

Auch die vielgehörte «Diskothek im 2» steht zur Diskussion. Es geht hier darum, aus fünf Aufnahmen eines Werks die beste zu küren. Kurz und gut, wie auch «52 beste Bucher» zeigt: Es muss nicht immer knallen und krachen, damit SRF 2 Kultur beliebt und dabei nicht anspruchslos ist.

Knallfrösche lässt man bei SRF eher zum Frühstück los. Da sagen zwei Moderatorinnen gefühlt jedes Mal: «Sie sitzen jetzt beim Kaffee, ich im Studio» oder erzählen mit salbungsvoller Stimme, wie sie beim Hören von Countertenören Gänsehaut kriegen. Schlimmer sind nur die «Kulturnotizen» um 8 Uhr. Da darf durchaus gefragt werden: Warum einen zweiten Moderator bezahlen, wenn der nicht mehr als Agentur-Nichtigkeiten vorliest, die Prinz-von-Asturien-Preisträgerin und den Tod irgendeines Bratschers bekanntgibt?

Doch immerhin kündigt Susanne Wille, Abteilungsleiterin Kultur von SRF, Neuigkeiten an, will sie doch ganz im Sinne der «digital first»-Strategie von Nathalie Wappler die Kultur via digitale Angebote stärken.

Schon 2015 hatte man mit der Satire-Serie «Güsel, die Abfalldetektive» einen Vorstoss gewagt, war aber in Phrasen wie «Wenn eine Tür zugeht, geht irgendwo eine andere Tür wieder auf» stecken geblieben.

Oder war die Serie gar ein Vorbote von Formaten, mit denen man nun die Jugendliche gewinnen will? Man lauschte da Tiefsinnigkeiten, aus denen SRF-Philosophin Barbara Bleisch und ihr Aphorismen-Pingpongpartner Yves Bossart heute ganze Online-Sendungen gestalten.

Auf Instagram gibt es «3 Fun Facts über Friedrich Dürrenmatt»

Wer sich auf dem Instagram-Kanal «srfkultur» vergnügen will, ist bald einmal beim Adventskalender angelangt, denn viel ist da noch nicht zu finden – und beliebt sind die bisher geposteten 228 Beiträge auch nicht, zählen gerade mal 5627 Abonnenten. Oder gehört der Kanal von Satiriker Deville auch zur SRF Kultur, wo immerhin 18’800 Abonnenten mit dabei sind?

Konzentrieren wir uns für vorerst auf das Angebot, wo «Kultur» draufsteht, auf «srfkultur»-Instagram etwa ein Paket zu Friedrich Dürrenmatt. «3 Fun Facts» zeigen, dass der Schriftsteller ein Teleskop besass, die Familientoilette bunt bemalt war und dass er von seiner Terrasse (mit Teleskop?) Fussballspiele im nicht so nahen Stadion schaute. «Wie kultig findet ihr Dürrenmatt jetzt?!», fragt die Moderatorin Jennifer Bossart.

«Megakultig» jubeln wir und fügen den Satz an, mit dem die Serie eröffnet wurde: «Boah ne, mit Dürrenmatt könnt ihr mich jagen!» Sicher auch, wenn man Andre Perler zuhört, wie er Anekdoten erzählt, über die nur er selbst lacht.

Bleiben wir im Bann des Dürrenmatt-Schwerpunkts und scrollen auf Instagram weiter zu «Steiner & Tingler», wo Literaturklub-Moderatorin Nicola Steiner und Literaturkritiker Philipp Tingler sich jeweils drei Minuten lang gekonnt Saures geben. Auch hier indes ein Problem: Tingler kann noch so schnell sprechen, in einer Zigarettenpause kann er nicht einen Bruchteil seines Wissens über den «Besuch der alten Dame» vermitteln.

Immerhin 86 Kommentare! Fast … «cordu.63» scheint keine Digital-Native zu sein und hat ihre Worte 86-mal gepostet. Egal: Man könnte auf SRF 2 durchaus öfter über Klassiker sprechen, statt über eine Neuerscheinung, die 1100 Leserinnen und Leser finden wird. Und so verweilen wir für einen Augenblick bei «Steiner & Tingler» und lauschen einem stilvollen Wortschwall Tinglers, der sich geradezu als Bad-Boy der Literaturkritik aufspielt. Gut so, denn nichts macht Kulturjournalismus langweiliger als die überall gleichen mutlosen Meinungen. Tingler will zur Diskussion anregen, weiss: Journalismus – ob Radio, Fernsehen oder Digital – ist auch Show. Intelligent und anspruchsvoll bleiben kann man deswegen dennoch. Gut getingelt!

Hoffnungsvoll bleiben wir ein Weilchen dran. Nun geht es um eine Frage, die jeden Studenten-WG-Küchentisch erschüttern wird: «Hesse oder Mann?» Tingler & Steiner diskutieren anhand von «Narziss und Goldmund», Tingler ist klar auf der Seite von Thomas Mann, doch Steiner lässt sich von ihrer alten Liebe nicht abbringen und trompetet genüsslich: «Ich sage euch: Hesse wird wieder gross rauskommen.» Potzblitz, das ist mal eine Ansage!

Bisweilen werden die drei Minuten «Steiner & Tingler» zu Slapstick, aber da sich die zwei so sympathisch sind, kriegen sie immer wieder kunstvoll die Kurve, reden klug über «Beste Sätze aus der Literatur» oder «Wörter, die es nicht auf Hochdeutsch gibt». Womit wir bei Barbara Bleisch wären, denn in ihrer digitalen Philosophie-Sendung wird Schweizerdeutsch gesprochen. Nicht nur das.

Nichts weniger und nichts mehr als die Frage «Hat unser Leben einen Sinn?» steht im Raum. Mit dieser philosophischen Schulfrage sollte der Start in die SRF-Digital-Reise zu schaffen sein, zumal Bleisch mit kunstvoller Gelassenheit eine meeresweite Bibliothek buchstabieren kann.

Bossart steht am Morgen auf, weil er «bisle» muss

Ohne Umschweife fragt Bleisch ihr Gegenüber Yves Bossart, warum er am Morgen überhaupt aufstehe und Bossart weiss zu berichten: «Meischtens will ech mues go bisle.» «Danke», sagen wir, wollen zurück zu «Steiner & Tingler», aber dann geht’s los: Wir tauchen ein in «Sophies Welt» und nebenbei gibt uns das Duo mit viel Schmus einen Rhetorik-Einführungskurs.

Bleisch/Bossart erklären jeden Gedankenschritt, den sie gehen. Bald tut Bleisch so, als wisse sie nicht weiter, erkennt, dass das Leben sinnlos ist, kämen da nicht Gott ins Spiel und ihre nächste Übermensch-Frage: «Warum gibt es Gott?»

Alleine schafft Bleisch den rhetorischen Gedankenritt nicht. Rasch hat sie den zweiten grossen Denker zitiert, einen, der «Grashälmli» zählt, fragt, ob es objektive Kriterien für ein sinnvolles Leben gebe. Nach dem fünften Zitat weiss auch Bleisch nicht mehr weiter: «Alles, was hilft, ist Selbstmord.» Wir sind geschockt, aber haben Verständnis. Dank ironischer Distanz und dank Denker sechs geht die Sendung weiter, bis Bleisch Philosoph Nummer Sieben zitiert und wir den Stecker ziehen.

Was soll der 18-Jährige tun, wenn er Tolstoi entdeckt?

Wer auf dem Instagram-Kanal von SRF tatsächlich weiterscrollt, findet Beiträge unter dem Titel «Kult» über die Bomberjacke, zum Sackmesser oder eine Gesangsblödelei der «Tatort»-Kommissarinnen. Nett gemachtes Kurzfutter, nur wollen wir nicht glauben, dass Kurzfutter-Konsumenten nicht auch eine 55 Minuten lange Sendung wie «52 beste Bücher» herausfordern könnte. Wenn nicht, was macht ein solcher Jungmensch, wenn er erstmals Tolstois «Krieg und Frieden» aufschlägt oder die Sinfonien Beethovens entdeckt, beim Zappen auf Antonionis «Zabriskie Point» stösst?

Er wird begeistert sein, auch wenn vieles rätselhaft bleiben wird. Denn wenn Kultur nicht herausfordert, kann sie ihre Grösse gar nicht zeigen. Wo Dürrenmatt zum Funfact wird, hat er weder Kraft noch Schönheit. Erst wer Dürrenmatt in seiner ganzen Grösse, Grobheit und Unangepasstheit ernst nimmt, wird auch an seinen SRF-Instagram-Beiträgen Spass haben. Das Hauptwerk macht selig, nicht die netten Anekdoten.

SRF-Kulturchefin Wille und SRF-Direktorin Wappler sollten begreifen, dass sich nicht immer eine zweite Türe öffnet, wenn eine Türe zugeht: Ein öffentlich-rechtlicher Sender hat die Pflicht, Kultur in ihrer Pracht und Sperrigkeit zu präsentieren. Wenn Kultur zu Funfacts wird, ist sie tot. Anders gesagt: Wenn für jungen Menschen eine grosse Kultur-Tür zugeht, ist die nächste schon verschlossen.