Landammann Markus Dieth über Corona-Massnahmen: «Wir hatten keine Wahl, als sofort zu handeln»

2020 ist kein Jahr wie irgendein anderes. Es ist geprägt von Corona, einer Infektionskrankheit, die schon viele Menschen das Leben gekostet hat, auch im Aargau die Spitäler sowie das Pflegepersonal und die Ärzte an ihre Grenzen bringt. Das hat auch Markus Dieth in seinem Landammannjahr geprägt. Er war im Frühling selbst an Corona erkrankt, und sagt im Interview, was dies in ihm verändert hat. Er ruft erneut eindringlich zur Einhaltung der Verhaltensmassnahmen auf, sagt, was er Menschen empfiehlt, denen an Weihnachten/Neujahr die Decke auf den Kopf zu fallen droht, und worauf er sich im nächsten Jahr trotz allem freut.

Herr Landammann, wann ist Ihnen bewusst geworden, welche Lawine mit Corona auf uns zukommt?

Markus Dieth: Der Regierungsrat hat die Gefährdungslage natürlich bereits seit Anfang Jahr laufend beobachtet und analysiert. Wir haben rechtzeitig Gremien zur Krisenbewältigung eingesetzt und die notwendigen Vorkehrungen in Abstimmung mit dem Bund getroffen. Aber so richtig bewusst wurde es mir am Wochenende vor dem Montag, 16. März, als ich in meiner Funktion als Landammann die kantonale Notlage ausrufen musste – zum Schutz der Aargauerinnen und Aargauer und im Wissen um die Auswirkungen auf unsere Wirtschaft. Es war, wie wenn wir einen Schalter umgedreht hätten. Diesen Moment voller Sorge und gleichzeitig Hoffnung werde ich nie vergessen. Eine so einschneidende Krise haben wir noch nie erlebt.

Was ist ganz anders als etwa bei Erdrutschen oder Überschwemmungen?

Wir üben immer wieder Krisenfälle wie etwa ein Hochwasser, das zeitlich und örtlich beschränkt ist. Die Coronakrise aber kennt weder Kantons- noch Landesgrenzen, sie ist eine gesundheitspolitische und soziale Krise, viele Menschen sterben, und das Ende der Krise ist noch unbestimmt.

Hätten Sie damals gedacht, dass Sie so kurz vor Weihnachten wieder einen eindringlichen Appell an die Bevölkerung richten müssen wegen Corona?

Nein, es war sicher davon auszugehen, dass wir im Winter wieder erhöhte Fallzahlen haben würden. Die massiv ansteigenden Infektionszahlen der letzten sieben Tage und die drohende Überlastung des Gesundheitswesens liessen uns nun aber keine Wahl, zum Schutz der Aargauer Bevölkerung sofort zu handeln. Deshalb muss der Kanton Aargau die vom Bundesrat beschlossenen Regeln und Verbote mit kantonalen Massnahmen verschärfen; sie gelten seit Sonntag, 24.00 Uhr. Ich danke der Aargauer Bevölkerung für das Verständnis und Befolgen der Anweisungen. Ich bin überzeugt, dass wir auch diese zweite Welle zusammen bewältigen können.

Markus Dieth nimmt Stellung zu den drastischen Massnahmen und den präzisierten Ladenschliessungen im Kanton Aargau:

 
 

Was halten Sie von der Idee Ihres Zürcher Regierungskollegen Ernst Stocker, zu Gunsten der Kantone wegen Corona die Mehrwertsteuer befristet zu erhöhen?

Das ist eine neue und kreative Idee, die wir noch vertieft prüfen müssen. Auf jeden Fall sollte sich der Bund stärker an den direkten finanziellen Unterstützungsmassnahmen für die Unternehmungen beteiligen oder diese gar – im Sinne einer schweizweiten Gleichbehandlung – übernehmen. Auch wehrt sich der Bund noch immer gegen eine Mitfinanzierung der Entschädigung der Gesundheitsdienstleister; das stösst auf Unverständnis.

Sie und Regierungskollegen wurden selbst krank. Wie prägte das Ihre Wahrnehmung von Corona?

Ich habe erlebt, dass Corona mehr ist als nur eine Grippe. Der Körper kämpfte gegen starke Symptome und man weiss nicht, ob die eigenen Abwehrkräfte ausreichen, um wieder gesund zu werden. Hinzu kam die Sorge um all die erkrankten Menschen im Allgemeinen, aber auch meine Kolleginnen und Kollegen aus Regierung und Verwaltung. All diese Erfahrungen haben mich noch stärker sensibilisiert für die Bedeutung der Verhaltensmassnahmen, die uns alle schützen.

Ihnen blieb im Landammannjahr nichts erspart. Dazu kam ein weiterer Spitalaufenthalt wegen eines entzündeten Nabelbruchs. Die Operation haben Sie zum Glück gut überstanden. Arbeiten Sie bereits wieder voll oder noch etwas mit angezogener Handbremse?

Ich bin zum Glück robust und habe mich sehr schnell erholt. Es hat mich Demut gelehrt und mir wieder vor Augen geführt, dass die Gesundheit das wichtigste Gut ist, das wir haben. Wir müssen achtsam Sorge tragen. Ich bin seit Ende November wieder zu 100Prozent im Einsatz als Regierungsrat und Departementsvorsteher – gönne mir jedoch bewusst auch Pausen.

Eine Folge war – und ist jetzt wieder – viel Homeoffice. Funktioniert es nicht nur rück- sondern auch ausblickend?

Positiv zu werten ist, dass wir mit Corona einen unheimlichen Digitalisierungsschub erfahren haben. Homeoffice, virtuelle Regierungsratssitzungen und hybride Teammeetings sind heute an der Tagesordnung. Und es funktioniert sehr gut. Es beeindruckt mich sehr, wie schnell und agil wir in der Verwaltung reagiert haben und die Vorteile der neuen Kommunikationsmöglichkeiten in der Arbeitswelt zu nutzen wissen. Auch ich persönlich habe hier viel dazugelernt; und ich bin auf dem Weg zum papierlosen Büro einen grossen Schritt weitergekommen.

Pflegepersonal und Ärzteschaft in den Aargauer Spitälern erbringen wie schon im Frühling eine bewundernswerte Leistung. Im Frühling wurde öffentlich applaudiert. Wie könnte man ihnen jetzt danken?

Das Pflegepersonal und die Ärzte haben in der Tat Grossartiges geleistet und leisten weiterhin Ausserordentliches. Sie und viele weitere Aargauerinnen und Aargauer tragen mit grossem Einsatz zur Bewältigung der Krise bei. Den grössten Dank können wir Aargauerinnen und Aargauer leisten, indem wir uns an die Verhaltensmassnahmen halten und damit die Spitäler so rasch als möglich entlasten. So kann das Personal auch mal wieder durchatmen.

Und was kann die Regierung selbst tun?

Was wir als Regierung leisten können ist, dass die Spitäler und Kliniken für die angeordneten Ertragsausfälle und die Zusatzkosten während der gesamten Pandemiedauer angemessen entschädigt werden. Der Bund hat bisher solche Entschädigungen verwehrt. Der Regierungsrat bereitet eine entsprechende Vorlage an den Grossen Rat für finanzielle Unterstützungsleistungen an die Aargauer Gesundheitsinstitutionen vor. Somit kommt zu den bereits grossen Belastungen nicht noch ein zusätzlicher Spardruck hinzu. Wir haben damit ein Signal gesetzt und sagen: Wir vergessen Euch nicht. 

Was sagen Sie umgekehrt Coronaskeptikern, die nach wie vor die Massnahmen von Bund und Kantonen heftig kritisieren?

Die Fallzahlen und insbesondere die leider hohe Zahl an Toten sprechen eine deutliche Sprache. Ebenfalls die Statistiken, welche aufzeigen, dass die Zahlen sinken, wenn die Schutzmassnahmen konsequent befolgt werden. Ich habe Verständnis dafür, dass das Einhalten der Vorschriften für einige Menschen schwierig ist und für viele von uns über die Dauer der Pandemie viel Geduld abverlangt.

Aber?

Aber es ist der einzige Weg, damit wir die Auswirkungen der Pandemie in Grenzen halten können. Ich appelliere deshalb an die Bevölkerung, alle Massnahmen und Empfehlungen strikte zu befolgen. Besonders wichtig ist auch, dass man sich rasch testen lässt, wenn es Anzeichen dazu gibt. Gemeinsam meistern wir die nächsten Monate und mit Blick auf die Impfaussichten, gibt es doch immerhin ein Licht am Horizont.

Umgekehrt gibt es Kritik in umliegenden Ländern, die Schweiz tue zu wenig. Ist der Aargau da in Kontakt mit Baden-Württemberg?

Gerade in anspruchsvollen und schwierigen Zeiten sind gute grenzüberschreitende Kontakte und eine bewährte Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg besonders wertvoll. Eine Delegation des Kantons Aargau hat sich Ende November zusammen mit den anderen Grenzkantonen online mit Winfried Kretschmann, dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, zu einem Arbeitsgespräch getroffen und eine gemeinsame Erklärung zur Grenzsituation während der zweiten Pandemie-Welle verabschiedet.

Und das Resultat war?

Die Partner haben sich dafür ausgesprochen, den Grenzverkehr in der zweiten Welle der Pandemie offen zu halten und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Pandemieplanung und -bekämpfung weiter zu stärken. Der Regierungsrat ist sehr erfreut über diesen sehr engen und guten Austausch.

Dies gilt auch jetzt noch?

Ja, das gilt auch heute noch. Der Kontakt und Austausch mit unseren Nachbarn, insbesondere mit Baden-Württemberg ist weiterhin eng und beide Seiten setzen sich für möglichst offene Grenzen ein.

Wie verbringen Sie selbst Weihnachten? Man sollte ja nur im kleinen Kreis feiern, um möglichst Ansteckungen zu vermeiden.

Ich werde Weihnachten zu Hause in Wettingen im engsten Familienkreis feiern und ein paar freie Tage mit der Familie in der Natur geniessen. So oder so werde ich mich an die Verhaltensanweisungen des Bundes und der Behörden halten.

Was empfehlen sie Menschen, denen wegen Corona gerade in den Festtagen die Decke auf den Kopf zu fallen droht, die psychisch leiden?

Mir ist bewusst, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen von Corona nicht zu unterschätzen sind. Kombiniert mit der Winter-/Weihnachtsstimmung kann das bei einigen Menschen zu psychischen Belastungen führen. Darum haben wir mit der PDAG die Coronavirus-Helpline geschaffen – ein niederschwelliges Angebot, welches den Menschen in seiner individuellen Situation berät. Mir selber helfen in schwierigen Situationen Spaziergänge in der Natur, Klavier spielen oder gute Gespräche. So kann ich Kraft tanken.

Jede Krise ist auch eine Chance, heisst es. Sehen Sie in der Coronakrise bei aller Tragik irgendwo auch eine Chance?

Vielleicht die Chance, sich bewusst zu werden, was im Leben wirklich zählt. Die Krise hat uns in Erinnerung gerufen, wie wichtig Vertrauen, Zusammenhalt und Solidarität für unsere Gesellschaft sind. Wenn wir auch in Zukunft diese Werte hochhalten, dann bin ich mir sicher, dass wir gestärkt und mit einer gewissen Bescheidenheit aus der Krise hervorgehen werden.

Selbst in einem Jahr wie diesem gibt es nebst Negativem auch Positives. Was war Ihr Highlight dieses Jahr?

Ich bin stolz darauf, dass Regierung und Verwaltung zusammen mit dem Grossen Rat den Kanton mit Augenmass durch dieses spezielle Jahr geführt haben und zudem noch zahlreiche wichtige strategische Vorhaben in Angriff genommen oder umgesetzt haben. Persönlich erinnere ich mich gerne an die trotz Corona unter Einhaltung der Vorgaben ermöglichten vielen Begegnungen mit der Bevölkerung, den schönen Empfang mit der Bevölkerung bei der Landammannfeier (gerade noch vor Corona), und selbstverständlich habe ich mich auch über das grosse Vertrauen der Bevölkerung anlässlich meiner Wiederwahl gefreut.

An der Landammannfeier ahnte man noch nicht, was danach kam. Markus und Désirée Dieth sowie die Töchter Viviane (l.) und Ariane.

An der Landammannfeier ahnte man noch nicht, was danach kam. Markus und Désirée Dieth sowie die Töchter Viviane (l.) und Ariane. © Sandra Ardizzone

Wie kann man eine Regierung führen, wenn man sich oft nur virtuell zu Sitzungen trifft? Den persönlichen Kontakt ersetzt das ja nicht?

Führung ist Beziehungsarbeit und basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Dieses Vertrauen ist im Regierungsrat stark ausgeprägt und angesichts der Notwendigkeit der Massnahmen halten wir das gut durch. Mittlerweile arbeiten wir immer mehr auch mit Kamera und so bekommt man schon fast das Gefühl von Livesitzungen. Selbstverständlich freuen wir uns wieder auf persönliche Begegnungen – und Vorfreude ist bekanntlich auch ein Energiespender.

Was wünschen Sie Ihrem Nachfolger als Landammann, Stephan Attiger, nach diesem ausserordentlich schwierigen Jahr 2020?

Wie ich Stephan Attiger kenne, wird er sein Landammannjahr mit viel Engagement und Freude meistern und selbstverständlich wünsche ich ihm wie uns allen, dass wir das Ende der Pandemie irgendwann nächsten Sommer «feiern» dürfen.

Was wünschen Sie der Aargauer Bevölkerung?

Zuversicht, Disziplin und Geduld im Umgang mit der Pandemie. Freude an vielen schönen Kleinigkeiten im Alltag und vor allem Gesundheit. Im Namen der Aargauer Regierung wünsche ich allen Aargauerinnen und Aargauern besinnliche Festtage.

Auf was freuen Sie sich ganz besonders im neuen Jahr?

Ich freue mich darauf, wieder mehr Zeit für die strategisch wichtigen Vorhaben und die Führung meines Departements zu haben. Ich will bereits im ersten Quartal mit der finanziellen Langfristperspektive sowie einer neuen Steuerstrategie den Standort Aargau stärken. Die Digitalisierung der kantonalen Verwaltung und der Ausbau der digitalen Dienstleistungen für Unternehmen und Bevölkerung stehen ebenfalls weit oben auf meiner Agenda. Ganz wichtig ist aber, dass wir weiterhin eine Finanzpolitik im Aargau betreiben, die verlässlich und weitsichtig ist. Dies braucht strategischen Weitblick.

Und über den Kanton hinaus?

Zusätzlich freue ich mich auf mein interkantonales Engagement in der Nordwestschweizer Regierungskonferenz, wo das Aargauer Präsidium ansteht, als Mitglied der Konferenz der Kantonsregierungen und als Vorstandsmitglied der Landwirtschaftsdirektoren. So kann ich die Anliegen unseres Kantons und unserer Nordwestschweiz in Bundesbern aktiv vertreten.