
«Lesen ist ein grosses Wunder»: Die Literaturtage Zofingen sind in vollem Gang

„Lesen ist ein grosses Wunder“. Mit diesen Worten der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach möchte auch ich Sie in meiner Funktion als Programmleiterin zu den Zofinger Literaturtagen Willkommen heissen.
Lesen ist ein grosses Wunder – denn Literatur macht die Welt weit. Für die Dauer der Lektüre und auch noch für die Dauer der Zeit, in der wir über das Gelesene nachdenken, sehen wir die Welt durch andere Augen. Wir nehmen Probleme wahr, die wir selbst noch nie hatten, wir erkennen einen Freudenquell, wo wir ihn nie vermutet hätten. Wir wissen plötzlich, wie es in anderen Ländern, in anderen Städten, in anderen Zimmern aussieht. Wir wissen, wie das Licht am Nachmitttag durch ein gewisses Fenster fällt, wie ein Dielenboden in einem bestimmten Haus knackt. Für kurze Zeit dürfen wir in einem anderen Umfeld zuhause sein.
Manche Orte, die ich in der Literatur erkundet habe, wurden mir vor dem inneren Auge so lebendig, dass ich sie bereisen wollte. Was soll ich sagen? – es war jedes Mal schön und auf eine sehr surreale Art vertraut – eine Art déjà vu. Man war noch nie zuvor dort und erinnert sich dennoch daran, da gewesen zu sein. Aber – es ist nicht ganz dasselbe.
Es ist nicht ganz dasselbe, weil wir beim Lesen nicht nur in andere Zimmer, sondern vor allem auch in andere Köpfe sehen können. Beim Lesen sehe ich den Ort durch die Augen der Protagonistinnen und Protagonisten. Vor Ort bin ich wieder auch mich selbst zurückgeworfen.
In diesem Jahr empfangen die Literaturtage Zofingen kein Gastland, dessen ferne Bräuche, dessen überlieferte Sagen und Gründungsmythen für uns ganz unvertraut sind. Für viele Besucherinnen und Besucher liegt der Reiz unseres Literaturfestivals aber genau darin – etwas ganz und gar Neues und Unbekanntes zu entdecken. Ihnen will ich sagen: das können Sie auch in diesem Jahr – oder: das können Sie sogar ganz besonders in diesem Jahr, denn in diesem Jahr rechnen Sie nicht damit.
Literatur verschafft uns so mühelos und angenehm wie sonst kaum etwas, die Möglichkeit, einen anderen Lebensentwurf gedanklich durchzuspielen. Beim Lesen öffnen wir uns, es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig, sonst verlieren wir den Anschluss an das Personal, das den Roman bevölkert. Indem wir uns für die Dauer der Lektüre deren Lebensrealität zum Kompass machen, gleichen wir ihn mit unseren eigenen Wertungen und Gepflogenheiten ab. Egal, ob ein Buch in Langenthal spielt oder im Kaiserreich von China – das, was scheinbar fremd ist, hat doch immer auch etwas mit uns zu tun.
Die Verschwiegenheit eines ganzen Dorfes, wie in Leontina Lergier Cavienzels Roman „Hinter dem Gwätt“ eindrücklich beschrieben, sagt auch etwas über unsere eigene Fähigkeit aus, Problemen mit Kommunikation zu begegnen – oder totzuschweigen.
Die Angst vor Veränderung und Verlust, die uns Thomas Röthlisbergers Figur Barbla eindrücklich zeigt, wer kennt sie nicht? Und wer vergisst diese Perspektive des Ängstlichen, wenn er selbst diejenige Figur ist, die nach Veränderung strebt?
So fern uns modernen „Städtern“ im Tal die Perspektive von Fabio Andinas Hauptfigur Felice auch sein mag – sein Blick auf die Natur rührt etwas an in uns, von dem wir erkennen müssen: das war auch zuvor schon da – wir haben es vielleicht einfach übersehen.
Literatur macht uns sensibel. Beim Lesen erlauben wir uns, interessiert den intimsten Gedankengängen von Menschen beizuwohnen, die wir im direkten Gespräch vielleicht meiden würden.
Die Anthologie „Gruss aus der Küche“ versammelt eine Vielzahl inspirierender Texte zum 50jährigen Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz, die sich einerseits mit dem Thema Frausein heute befassen, aber andererseits für die Nachgeborenen wie mich auch ein realistisches Bild der damaligen Zeit zeichnen. Und auch das macht etwas beim Lesen: Ich bin überzeugt, dass der Text von Angelika Waldis, der die Perspektive einer „normalen“ Ehefrau in den Sechzigerjahren schildert, der es „doch an nichts fehlt“, einigen Männern im Jahr 1971 geholfen hätte, ihre Frauen zu verstehen.
Zu lesen, wie diese Frauen damals stürmten – oder wie Greti Caprez Roffler bereits Jahrzehnte zuvor stürmte, weil sie als nach ihrer Ausbildung als Pfarrerin auch in diesem Beruf arbeiten wollte, hilft uns dabei, Menschen zu verstehen, die heute für eine Sache, ein Recht kämpfen, auch wenn deren Diskriminierung, deren Forderung uns gar nicht selbst betrifft.
Denn auch das ist ein wichtiger Aspekt der Literatur: Wer identifiziert sich beim Lesen mit den Herrschenden? Mit denen, gegen die aufbegehrt wird? Wir schlagen uns beim Lesen auf die Seite der Opfer – viel schneller, als wir uns auf der Strasse mit jemandem identifizieren, der uns um Hilfe bittet oder um eine Unterschrift für eine gute Sache oder einfach nur um Zeit.
Lesen macht menschlicher.
Wir können nach der Lektüre nicht mehr so tun, als wüssten wir nichts über dieses spezielle Thema, diesen Sachverhalt – dieses Land.
„Wer Bücher liest, schaut in die Welt und nicht nur bis zum Zaune“, – so Johann Wolfgang von Goethe. Glauben Sie mir, auch wenn wir in diesem Jahr nicht nach Kanada oder China, nach Namibia oder Andorra reisen – die Bücher, die Autorinnen und Autoren, die in diesem Jahr zu Gast in Zofingen sind, schauen weit über den Gartenhaag hinaus. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein freudvolles und überraschungsreiches, ein durch und durch inspirierendes Literaturfestival.»
Julia Knapp, Leiterin der Literaturtage Zofingen