
Luft im Bahnhof ist dreckiger als an stark befahrenen Strassen – normale Grenzwerte gelten nicht
Feinstaub ist nicht gleich Feinstaub
Zündet man in einem geschlossenen Raum eine Kerze an, schiessen die Feinstaubwerte nach oben. Doch der Kerzenfeinstaub ist nicht so gesundheitsschädlich wie Eisenbahn- oder Autofeinstaub. Die Gefährlichkeit von Feinstaub hängt von drei Faktoren ab: Menge, Zusammensetzung und Grösse. Die kleinen Partikel gelangen – je nach Grösse – in die Nase oder bis in die Lunge und reizen die Schleimhäute. Sehr kleine Teilchen gelangen sogar ins Blut und können Herz- und Kreislaufkrankheiten auslösen. Mehrere Studien wiesen nach, dass an Tagen mit hoher Feinstaubbelastung überdurchschnittlich viele Herzinfarkte gemeldet werden. Das Bundesamt für Raumentwicklung geht davon aus, dass in der Schweiz jährlich 2200 Personen vorzeitig an den Folgen von Luftverschmutzung durch Feinstaub sterben. (sgm)
Wenn der Feinstaub für Schlagzeilen sorgt, dann meist auf der Strasse. Speziell die Diesel-Autos gerieten in Deutschland kürzlich in die Schlagzeilen wegen erhöhten Stickoxid- und Feinstaubausstosses. Bei den Bahnhöfen aber scheint niemand so genau hinzuschauen. Dabei ist es dort, speziell im Untergrund, extrem dreckig. Auch in der Schweiz.
Bisher war die hohe Feinstaubbelastung in unterirdischen Bahnhöfen nur in anderen europäischen Ländern ein Thema, zuletzt in Deutschland. Die unabhängige Expertenorganisation Dekra, welche die Sicherheit an Arbeitsplätzen überprüft, mass letztes Jahr an mehreren Stuttgarter U-Bahn-Stationen die Feinstaubbelastung und kam auf einen Wert von 120 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Die Zahl bedeutet: Der deutsche Grenzwert wurde um mehr als das Doppelte überschritten. Die Luft am Neckartor in Stuttgart, welches als die dreckigste Strassenkreuzung Deutschlands bekannt ist, war im Dekra-Test nicht annähernd so verschmutzt (25 μg/m3). Ähnliche Messungen aus ganz Europa kommen zum gleichen Schluss: Die Luft in Bahnhöfen, vor allem in unterirdischen, ist enorm feinstaubreich.
Im Bahnverkehr entsteht Feinstaub beim Verlangsamen von Zügen. Kleinste Partikel werden von Bremsen und Schienen abgerieben. In unterirdischen Bahnhöfen ohne ausreichende Belüftung kann die belastete Luft nicht entweichen und sammelt sich. Diese Bahnhofsluft ist speziell problematisch, weil sie mit Metallpartikeln beladen ist, welche besonders aggressiv und gesundheitsschädlich sind.
Feinstaub im Untergrund
In der Schweiz gibt es zwar keine U-Bahn, dafür aber einen grossen Bahnhof, dessen Gleise teilweise unter der Erde liegen: den Hauptbahnhof Zürich. Die SBB-Medienstelle teilte dieser Zeitung einzelne Zahlen aus einer firmeninternen Studie mit. Komplett veröffentlichen wollen die SBB diese nicht. Doch die bekannt gegebenen Zahlen zeigen: Die Feinstaubbelastung im Untergrund des Zürcher Hauptbahnhofs ist erheblich. Auf den unterirdischen Gleisen 41 bis 44 (Bahnhof Museumsstrasse) ist der Feinstaubwert mit 111 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft mehr als doppelt so hoch wie der vom Bund erlaubte Tagesgrenzwert von 50 Mikrogramm aus der Luftreinhalteverordnung. Der maximale Jahresmittelwert wird sogar um das Sechsfache überschritten. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Feinstaubbelastung bei den Messstationen in der Zürcher Innenstadt lag 2018 bei etwa 20 μg/m3.
Die SBB wissen das seit Jahren, denn sie führten immer wieder Messungen durch. Die Medienstelle der Bundesbahnen weist darauf hin, dass sich die Belastung im unterirdischen Bahnhof Museumsstrasse seit 2004 halbiert hat. Dies, weil schonendere Bremsen an den Zügen angebracht wurden und weil dort seit 2004 ein Rauchverbot gilt. Ab 1. Juni dieses Jahres wird das Rauchverbot nun in der ganzen Schweiz an allen Bahnhöfen gelten – abgesehen von speziell dafür vorgesehenen Orten.
Doch für den Zürcher Hauptbahnhof gibt es keine Grenzwerte, die gesetzlich gelten. Das Bundesamt für Umwelt ist für die Überwachung der Luftqualität in der Schweiz zuständig. Richard Ballaman, Chef der Sektion Luftqualität im Bundesamt, schreibt: «Die Immissionsgrenzwerte der Luftreinhalteverordnung gelten für die Aussenluft, nicht aber für Innenräume wie zum Beispiel einen unterirdischen Bahnhof, auch nicht für eine Fahrbahn oder das Betriebsgelände einer Anlage.»
Grosse Grenzwertunterschiede
Die SBB verteidigen die Luftqualität deshalb mit dem MAK-Grenzwert. Dies ist der Feinstaubgrenzwert für den Arbeitsplatz, und er ist 300 Mal grösser – das heisst toleranter – als der Luftreinhalte-Grenzwert des Bundes, der für Frischluft gilt. Mediensprecher Raffael Hirt schreibt: «Die Werte im Bahnhof Museumsstrasse liegen bei einem Hundertstel des MAK-Grenzwerts. Daraus folgern wir, dass keinerlei Gesundheitsgefährdung besteht».
Doch am Bahnhof vermischen sich Arbeitnehmer und gewöhnliche Pendler stark. Zu den Pendlern sagt das Bundesamt für Umwelt, es sei zu beachten, «dass wegen der kurzen Verweildauer die Belastung der auf dem Bahnsteig wartenden Fahrgästen relativ gering ist.» Das Bundesamt sieht keinen Handlungsbedarf: «Daher ist es nicht erforderlich, zusätzliche Massnahmen zu den bereits bestehenden zu ergreifen, um die Emissionen von Eisenbahnstaub zu begrenzen.»
Professor Nino Künzli vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut forscht seit vielen Jahren an den langfristigen Auswirkungen von Feinstaub auf die Gesundheit. Er bestätigt, dass Pendler ihre Gesundheit im Zürcher Hauptbahnhof vermutlich nicht gefährden. Künzli sagt aber auch: «Es gibt keine Studien, welche langfristige Wirkungen von regelmässigen, sehr kurzen Belastungen mit feinstaubreicher Luft, wie Zugfahrer sie erfahren, untersucht haben.» Der Mediziner weist darauf hin, dass bei Asthmatikern und besonders empfindlichen Personen kurzzeitige Belastungen durchaus zu vorübergehenden Atembeschwerden führen können.
Schlechte Luft am Take-away
Doch was ist mit all jenen, deren Arbeitsort der Bahnhof ist? Sie sind dem Feinstaub während mehrerer Stunden pro Tag ausgesetzt. Nebst den Angestellten der SBB sind dies zum Beispiel auch die Verkäufer an den Take-away-Ständen in den unterirdischen Bahnhofspassagen. Gerade für sie, die länger da sind, gilt der höhere Grenzwert. Dass für Arbeitnehmer höhere Grenzwerte gesetzt werden können, wird damit gerechtfertigt, dass die Werte für die alltägliche Luft eben speziell streng seien: Mit den tiefen Grenzwerten der Luftreinhalteverordnung müssen auch Personen mit erhöhtem Risiko geschützt werden, so zum Beispiel Asthmatiker. Feinstaubexperte Christoph Bosshard von der Suva erklärt ausserdem, dass die beiden Grenzwerte «aus Definitionsgründen» nicht miteinander verglichen werden dürfen.
Es ist aber so, dass der hohe MAK-Wert nur für Staub angewandt werden darf, der keine besondere Wirkung auf die Gesundheit ausübt. Christoph Bosshard von der Suva sagt: «Für Staub mit spezifischen gesundheitsschädlichen Wirkungen gelten am Arbeitsplatz andere, tiefere Grenzwerte». Ein Blick in die MAK-Grenzwertdatenbank zeigt jedoch: Die Grenzwerte für die giftigen Stäube sind nicht überall niedriger. Eisenoxide etwa, die am Bahnhof gehäuft vorkommen, sind laut Suva gesundheitsgefährdend und schädigen die Lunge: Sie haben aber den gleichen normal hohen MAK-Grenzwert. «Dies kann damit erklärt werden», schreibt Bosshard, «dass in den zugrunde gelegten Betrachtungen die gesundheitsgefährdenden Eigenschaften eben nicht so stark ausgeprägt waren, als dass sie die Festlegung eines viel tieferen Grenzwerts gerechtfertigt hätten.» In anderen Ländern lägen die Grenzwerte für Eisenoxide im ähnlichen Bereich.
Dass noch mehr Massnahmen zur Luftverbesserung möglich wären, zeigt ein Blick nach Stuttgart. Dort hat das Verkehrsministerium des Landes Baden-Württemberg mit einem Spezialisten für Filtersysteme ein Pilotprojekt gestartet. Am Neckartor stehen seit einigen Monaten futuristische Würfel, die Feinstaub aus der Luft filtern. Der Einsatz dieser Geräte ist für die Zukunft auch in unterirdischen Bahnhöfen und U-Bahnen geplant. Laut Hersteller können so in geschlossenen Räumen bis zu 80 Prozent des Feinstaubs aus der Luft gefiltert werden.