
Medienprofessor: «Die Bedeutung des Regionalen bleibt sehr wichtig»
Vinzenz Wyss, auf einer Skala von 1 bis 10, wie gut ist der Journalismus in der Schweiz?
Vinzenz Wyss: Das ist natürlich eine tricky Frage, vor allem an einen Wissenschaftler, der immer differenziert. Zunächst wäre es wichtig, dass wir klären, was Journalismus ist. Der kann ja überall stattfinden. Ich nehme aber an, dass Ihre Frage darauf abzielt, dass wir die traditionellen Medienorganisationen wie das Zofinger Tagblatt vor Augen haben.
Genau die meine ich.
Auch das müsste man wieder differenzieren, aber ich mache das Spiel mit und sage: eine 7. Das ist ein sehr guter Wert. Man kann aber eine solche Zahl nicht stehen lassen, wenn man nicht auch einen Vergleich hat.
Zum Beispiel zu früher?
Es ist ganz klar: Der Journalismus ist besser geworden. Aber auch die Anforderungen an ihn sind gestiegen. Die Frage zu früher ist sinnlos, wenn man nicht berücksichtigt, dass sich die Umstände vollkommen verändert haben. Die Probleme, mit denen der Journalismus heute konfrontiert ist, sind viel grösser, und auch die Komplexität der Welt hat zugenommen. Insofern: Selbstverständlich wurde der Journalismus besser, aber er steht nach wie vor vor unheimlich grossen Herausforderungen.
Was macht denn guten Journalismus im Jahr 2017 aus?
Es war noch nie so wichtig, dass es einen qualifizierten Journalismus gibt. Das heisst: eine Institution, die dafür zuständig ist, die Gesellschaft unabhängig zu beobachten, die Komplexität der Gesellschaft mit begründetem Wissen darzustellen und die guten Geschichten an ein Publikum heranzutragen, das verwöhnt ist mit exponentiell wachsenden Angeboten. Die relevante Frage ist also nicht, ob der Journalismus besser ist als früher.
Sondern?
Die grosse Frage ist: Was nützt es denn, wenn wir guten Journalismus haben, aber dieser erreicht sein Publikum gar nicht? Heute gibt es Angebote, die es viel besser schaffen, das Publikum zu erreichen – und das muss Sorge bereiten. Wir haben mit der Digitalisierung eine gewaltige strukturelle Veränderung, die sich in drei Punkten auswirkt. Erstens haben wir ein ernsthaftes Finanzierungsproblem des Journalismus. Früher musste man eine Zeitung abonnieren, damit man up to date war und mitreden konnte. Mit der Digitalisierung sind unzählige andere Player in den öffentlichen Vermittlermarkt getreten. Und die Werbewirtschaft geht dahin, wo das Publikum ist.
Und der zweite Punkt?
Das Nutzungsverhalten hat sich geändert. Die Menschen sind immer weniger bereit zu bezahlen und bewegen sich jederzeit auf zahllosen Kanälen, auf denen sie mit Interessantem erreicht werden …
Facebook zum Beispiel.
Sicher meine ich damit auch die sozialen Plattformen wie Facebook oder Google, die sehr mächtig werden, weil ihre Algorithmen bestimmen, wer unter welchen Bedingungen erreicht wird. Ein dritter wesentlicher Punkt ist, dass es neben den journalistischen Akteuren ganz viele strategische Kommunikatoren gibt, die auf diesen Kanälen ihre eigenen Interessen verfolgen. Der Journalismus hat also sein Gatekeeper-Monopol verloren.
Können Sie das ausdeutschen?
Früher war es klar, dass man eine Zeitung in die Hand nehmen oder den Fernseher einschalten musste, wenn man sich informieren wollte. Heute haben wir unzählige Player, die Einfluss nehmen wollen und sich auf den Plattformen der Tech-Giganten tummeln. Der Journalismus verliert so an Reichweite. Kommt der Faktor dazu, dass die Werbewirtschaft nicht mehr zum Journalismus geht und das Publikum immer weniger bereit ist zu bezahlen, dann führt das zu einer Schwächung des Journalismus.
Es gibt neue Ideen, Ressourcen zu generieren – neue Werbeformen zum Beispiel.
Einige davon sind meines Erachtens problematisch. Native Advertisement zum Beispiel, Werbung also, die wie ein normaler – aber eben bezahlter – Artikel daherkommt. Damit wird an der Glaubwürdigkeit des Journalismus geritzt. Für ein Publikum ist es kaum möglich, solche neuen Werbeformen zu erkennen, selbst wenn sie scheinheilig als solche deklariert sind.
Wenn wir das alles in die Zukunft extrapolieren: Was ist Ihr Szenario?
Wir können nicht damit rechnen, dass das Publikum plötzlich wieder bereit ist zu bezahlen. Es ist ja verwöhnt und hat das Gefühl, auch so nicht schlecht informiert zu sein. News gibt es überall. Deshalb wird es für teure journalistische Formate, die Orientierung stiften, einordnen und mit begründetem Wissen angereichert sind, noch schwieriger sich zu finanzieren. In die Zukunft schauend muss uns aber auch Sorgen machen, dass wir es mit einer Erosion der so genannten institutionellen Wissensordnung zu tun haben.
Können Sie erklären, was Sie damit meinen?
Vor der Digitalisierung haben Institutionen wie die Wissenschaft oder der Journalismus Wissen produziert und man hat darauf vertraut, dass sie das relativ gut machen. Neu ist, dass auf den digitalen Plattformen verschiedenste, auch unwissenschaftliche und unjournalistische Wissensangebote nebeneinanderstehen, ja gar aufeinanderprallen. Die Folge kann Verwirrung sein: Man weiss gar nicht mehr, wem man vertrauen kann. Die Herausforderung ist, dem Publikum zu erklären, dass sich Journalismus eben fundamental unterscheidet von Angeboten, die interessengesteuert oder sogar Fake News sind.
Die Angebote haben sich vermehrt, das ist doch nicht schlecht.
Richtig, aber gleichzeitig gibt es eine unheimlich grosse Verunsicherung. Die Leute nehmen die Interpretation der Flüchtlingskrise über die Medien war, gleichzeitig wird den Leuten gesagt, dass viel verschwiegen werde, es werde Mainstream betrieben und Journalisten und Politiker steckten sowieso unter einer Decke.
60 Prozent der Leute in der Schweiz haben Vertrauen in die Medien.
Ja, das ist ein sehr hoher Wert, auch international gesehen. Und der Wert ist seit Jahren relativ stabil. Trotzdem stellt sich so etwas wie eine tief greifende Verunsicherung ein. Man möchte daran glauben, dass man den Medien vertrauen kann. Auf den digitalen Kanälen kursieren aber verschiedenste Deutungsangebote, auch solche, die absichtlich gefälscht sind. Medien, die in dieser Situation mit Formen wie Native Advertising spielen, schaden eher der Glaubwürdigkeit. Das signalisiert dem Leser: Aha, die lassen sich ja auch kaufen!
Wie gross ist die Gefahr, dass diese Verunsicherung zu einem ernsthaften Problem wird – zum Beispiel, dass Fake News die nächsten Wahlen beeinflussen?
Ich denke, man muss es ernst nehmen. Fake News gab es immer. Neu ist, dass wissentlich falsche Nachrichten sofort zugänglich sind, von sehr vielen geteilt werden und schon deshalb eine gewisse Macht erhalten. Man weiss beispielsweise, dass das Publikum Artikeln, die von einem Medium stammen, weniger vertraut als den gleichen Artikeln, die eine Person in den sozialen Medien teilt. Je nachdem, wem man vertraut, kann das Folgen haben.
Es war schon immer so, dass die Leute Personen mehr vertrauen als Institutionen.
Richtig. Aber diese Personen sind nun alle sofort präsent. Wenn ein deutscher Bürgermeister ein Bild von angeblich an eine Kirche urinierenden Muslimen teilt, dann glauben die Leute dieser Person unter Umständen mehr, auch wenn die Medien korrigieren, die Leute an der Kirchenmauer seien betende Christen. Man weiss auch: Was man schon einmal gehört hat, glaubt man eher, auch wenn es falsch ist. So können sich Fake News hartnäckig festsetzen. Menschen hören gerne, was sie hören wollen.
Gibt es eine Renaissance des Regionalen?
Die Bedeutung des Regionalen bleibt sehr wichtig. Da, wo die Menschen ihre Steuern bezahlen, da, wo sie das Schwimmbad besuchen, da liegen auch relevante Geschichten. Die regionalen Medien stehen aber vor den genau gleichen Herausforderungen: Wie erreichen sie neben all den anderen Kanälen – der Elternrat auf WhatsApp zum Beispiel – ihr Publikum? Die Antwort ist: Da, wo es sich zunehmend aufhält, nämlich im Netz. Aus der Forschung wissen wir, dass sich die Leute auf mehreren Plattformen gleichzeitig aufhalten. Diese Foren muss man als medialer Anbieter erreichen – und dort die Sprache sprechen, die die Leute auch sprechen. Mit welchen Mitteln das zu stemmen ist, ist eine ganz andere Frage.
Und wie würden Sie auf diese Frage antworten?
Bevor man darüber nachdenkt, wie relevanter Journalismus zu finanzieren ist, muss man die Einsicht haben, dass der Markt das alleine nicht schafft. Das muss man mit aller Deutlichkeit sagen. Dann kommt die Frage, wie die Gesellschaft dafür sorgen kann, dass Service-public-Angebote produziert werden und dann noch ihr Publikum erreichen. Eine konkrete Idee ist, dass man in der Schweiz analog zum Strom-, Strassen- oder Schienennetz so etwas wie eine mediale Infrastruktur baut. Eine Infrastruktur, die öffentlich finanziert ist. Auf dieser Plattform könnten sich Service-public-nahe Institutionen – also nicht nur die SRG – bewegen. Zum Beispiel auch das Zofinger Tagblatt. Eine solche Plattform wäre eher in der Lage, Google und Facebook die Stirn zu bieten.
Politisch dürfte das schwierig durchzusetzen sein.
Ich sehe bei einem solchen Modell am ehesten Chancen, weil es eine indirekte Förderung ist. Es ist auch möglich, dass man einen Konsens auch bei den Verlegern findet. Im neuen Mediengesetz könnte eine solche Plattform eine wichtige Rolle spielen. Wenn in der Bevölkerung das Bewusstsein gestärkt wird, dass der Markt nicht alles alleine regeln wird, dann steigt eventuell auch die Bereitschaft, dass man für eine solche Plattform vielleicht sogar die Gebühren erhöht.
Zur Person
Der gebürtige Solothurner Vinzenz Wyss, Dr. phil., ist Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er forscht und lehrt in den Bereichen Journalismustheorie, journalistische Qualität und Qualitätssicherung, Medienethik und Medienkritik.
Zwischen 2009 und 2015 war Wyss im Präsidium der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Er ist Gründungsmitglied von verschiedenen medienkritischen Netzwerken wie dem Verein für Qualität im Journalismus, dem Verein Medienkritik Schweiz und dem Stifterverein Medienqualität Schweiz. Zudem ist Wyss Leiter der Bildungs-kommission der SRG Zürich/Schaffhausen. Mit der von ihm gegründeten Firma Media Quality Assessment berät er Redaktionen punkto Qualitätssicherung.