«Meine Integration ging bis zur Selbstverleugnung»

1991 kam Florim Cuculi (rechts) mit seinem Bruder und seiner Mutter nach Wikon zu seinem Vater, der bereits vorher aus Mazedonien geflüchtet war.  zvg
1991 kam Florim Cuculi (rechts) mit seinem Bruder und seiner Mutter nach Wikon zu seinem Vater, der bereits vorher aus Mazedonien geflüchtet war. zvg

ZUR PERSON

Florim Cuculi ist vor 27 Jahren in die Schweiz gekommen. Der heute 41-Jährige lebte bis zu seinem 14. Lebensjahr beziehungsweise bis zum Zerfall Jugoslawiens in der südlichsten Teilrepublik Mazedonien. Er gehörte der albanischen Minderheit an. Mit seiner Familie wohnte er fortan an der Luzernerstrasse in Wikon. Angefangen in der Realschule in Reiden arbeitete sich Cuculi bis zur Kanti in Zofingen hoch. Anschliessend verfolgte er eine medizinische Laufbahn und ist zurzeit Co-Chefarzt Kardiologie des Luzerner Kantonsspitals. Er lebt mit seiner Frau und ihren beiden Söhnen in Geuensee.

Florim Cuculi ist ein Arbeitstier. Den Interviewtermin um 19 Uhr hat er wegen der Arbeit bereits um anderthalb Stunden nach hinten geschoben. Um 21.30 Uhr findet das Interview schliesslich im Zwischenraum zweier Operationssäle statt, während eine Kollegin und ein Kollege die letzte Operation an diesem Tag vorbereiten. Wenige Tage zuvor hat sich Griechenland und Mazedonien, wo Cuculi aufgewachsen ist, im jahrelangen Streit um den Namen Mazedonien geeinigt.

Florim Cuculi, Sie sind in Mazedonien aufgewachsen. Nennen Sie Ihre Heimat künftig Nord-Mazedonien?

Florim Cuculi: Warum bezeichnen Sie das als meine Heimat. Nehmen Sie mich nicht als Schweizer wahr?

Pardon, schlechter Einstieg. Ich spreche von Ihrer alten Heimat, wenn man das so nennen kann.

Ich denke, ich habe zwei Heimaten. Ich lebe nun seit… (rechnet) 27 Jahren in der Schweiz. Wenn man sich überlegt, dass man ab dem Alter von zirka 6 Jahren bewusst lebt, habe ich nur etwa 8 Jahre in Mazedonien verbracht. Ich habe also schon relativ viel meines bewussten Lebens hier gelebt. Für mich ist die Schweiz sicher eine Heimat. Hier habe ich ein Haus, und wenn ich vom Ausland zurückkehre, sage ich: Ich gehe nach Hause. Gleichzeitig ist Nord-Mazedonien auch eine Heimat, weil ich dort zur Welt gekommen bin, Kindheitserinnerungen von dort habe und familiär noch ziemlich verbunden bin. Ich würde also von meiner ersten und von meiner zweiten Heimat sprechen – das ist treffender.

Ich sprach bewusst von Nord-Mazedonien, weil das Mazedonische Parlament den Namensstreit mit Griechenland beilegen will. Verfolgen Sie die Politik dort?

Ich habe das schon mitbekommen; der Streit um den Namen währt aber schon lange. Ich bin froh, wenn das gelöst ist. Mir ist eigentlich völlig egal, wie man das nennt.

Früher haben Sie sich auf Twitter noch eher zur politischen Situation in Ex-Jugoslawien geäussert. Ist das für Sie nicht mehr so emotional?

Ich verfolge das nun weniger, weil ich kaum dazu komme und beruflich sehr eingespannt bin. Es gibt noch eine andere Komponente: Ich bin ja Albaner aus Mazedonien. Seit Mazedonien unabhängig ist, hat der Staat Leute wie mich lange Zeit als Bürger zweiter Klasse betrachtet; sei es was den Gebrauch der Sprache betrifft, sei es das Gefühl, das man dir gegeben hat, wenn du am Flughafen angekommen oder mit dem Auto in ein anderes Land gefahren bist. Da hat man mich nicht immer nett behandelt. Es schwierig eine Liebe für ein Land zu entwickeln, das dich behandelt wie jemand, der nicht so richtig dazugehört.

Das war wohl bei Ihrer Ankunft in der Schweiz nicht anders.

Ich hatte das Glück, dass ich in der Schweiz immer in einer Bildungsoase gelebt habe. Ich hatte mit Menschen zu tun gehabt, die gebildet sind und die Fremden wohlgesinnt sind. Sie haben sich nicht trotz meines Fremdseins, sondern wegen meines Fremdseins für mich eingesetzt. Es ist immer abhängig vom Umfeld, wie man ein Land erlebt. Das ist bei einem Bauarbeiter sicher anders.

Was war das für ein Umfeld?

Ich bin als 14-Jähriger nach Wikon zu meinem Vater gekommen. Ich habe dann in Reiden die Schule besucht. Am ersten Tag war ich noch in der Realschule, weil ich kein Deutsch konnte. Dann hat mich der Lehrer auf Französisch – diese Sprache konnte ich – gefragt, was ich werden möchte. Ich sagte: Médecin. Er entgegnete: Mediziner – das werde ein bisschen schwierig mit einem Realschulabschluss. Dann sagte ich, er solle mich halt in die Klasse bringen, wo man Médecin werden kann. Also gab er mir Mathematikaufgaben. Die habe ich gut gelöst. Er hat mich am gleichen Tag mitgenommen und mit dem Sek-Klassenlehrer darüber gesprochen. Am nächsten Tag war ich schon in der Sek. Meine Deutsch-Zusatz-Lehrerin setzte sich stark dafür ein, dass ich acht Lektionen pro Woche zusätzlichen Deutsch-Einzelunterricht bekam. Also habe ich nach einem halben Jahr schon ziemlich gut Deutsch gesprochen. Dann habe ich von der Sek an die Bezirksschule und anschliessend an die Kantonsschule Zofingen gewechselt. Später habe ich die medizinische Laufbahn in Angriff genommen.

Können Sie sich erinnern, wieso Sie Arzt werden wollten?

Nein, an das kann ich mich nicht erinnern. Ich weiss aber, dass es nicht der Einfluss der Eltern war, ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen.

Wollten Sie es den Schweizern zeigen?

Nein, dieses Bedürfnis hatte ich nie. Ich bin aber grundsätzlich jemand, der ehrgeizig ist. Und der Ehrgeiz hatte ich immer; ich war beispielsweise nie gut im Fussball, wollte aber trotzdem der Beste sein und gewinnen. Ich denke, das hat gar nicht mit meinem Migranten-Dasein zu tun, das ist eher mein Charakter. Wohlwissend, dass ich nicht immer der Beste sein kann. Ich hatte aber lange das Gefühl gehabt, ich werde unter Wert geschlagen. Wenn ich in eine Apotheke ging und Aspirin kaufen wollte, wurde ich wie ein Minderintelligenter behandelt. Solche Sachen haben mich früher aufgeregt, jetzt nehme ichs mit Humor.

Was haben Sie in solchen Situationen getan?

Ich habe zum Beispiel konsequent Schweizerdeutsch gesprochen, von Anfang an. Bereits im ersten Jahr in Reiden wollte ich Schweizerdeutsch reden. Immer, wenn der Lehrer sagte: Wir müssen wegen Florim Hochdeutsch sprechen, sagte ich: ‹Nei, mi cha mit mier etz eifach ganz normal Schwizerdütsch rede.›

Man meint es gut, macht es aber falsch.

Das ist ein Automatismus, das erlebe ich nun selber. Ich spreche mit meiner Kollegin manchmal Hochdeutsch. Und sie hat den gleichen Reflex, den ich auch hatte – man kommt sich komisch vor. Man gewöhnt sich zwar daran, aber am Anfang hat das die Signalwirkung: Du gehörst nicht dazu.

Seit 27 Jahren leben Sie in der Schweiz. Was hat sich diesbezüglich verändert?

Die Schweiz ist viel weltoffener geworden. Man nimmt das Fremde nicht nur als schlecht wahr. Zu meiner Zeit war Fremdsein eher etwas Negatives. Man wurde toleriert. Heute gibt es überall positive Beispiele: im Fussball, in der Medizin, an Unis. Wenn man heute in die Schweiz kommt, gibt es andere Schwierigkeiten, aber man ist kein Exot mehr.

Sie haben den Fussball angesprochen. Sind Fussballer gute Integrationsfiguren?

Die Fussballer spielen ihre Rolle gut. Aber man darf die Albaner nicht nur auf den Fussball reduzieren à la: ‹Das sind chli schlimme Sieche, aber Fuessball chönds imfall›. Das darf nicht sein. Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka, das sind ja eigentlich Paradeschweizer. Es gibt aber noch viele andere Secondos und Terzos.

Als Arzt sind Sie ja gewissermassen auch das Paradebeispiel einer «gelungenen» Integration. Die Gefahr ist, dass andere umso schlechter dastehen.

Ich will keine Ausnahme sein. Und will nicht als Beispiel herhalten, damit Schweizer sehen, dass Albaner nicht alle blöd sind. Ich bin aber gerne ein Beispiel für Albaner oder andere Secondos. Im Sinne von: In diesem Land kannst du es wie Cuculi zu etwas bringen – mit viel Arbeit und ein wenig Talent.

Gemäss Albinfo, einer Website für die albanische Diaspora in der Schweiz, gibt es im Vergleich zu Schweizern wenige Ärzte mit albanischem Hintergrund.

Ja, es gibt wenig. Ich denke, das ist geschichtlich bedingt. Während von anderen Bevölkerungsgruppen eher Intellektuelle geflohen sind, kamen aus dem Kosovo – wie schon bei den Italienern – vor allem Arbeiter. Und der Sohn eines Bauers wird auch in Schweiz nur in wenigen Fällen Arzt. Ich denke, die Gesellschaft muss den jungen Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl nehmen, dass sie es in der Schweiz nicht bis oben schaffen können. Aber es hat auch viel mit den Jugendlichen selbst zu tun – damit, wie man sich gibt.

Wie haben Sie sich gegeben – haben Sie sich speziell integriert oder sogar assimiliert?

Es gab sicherlich eine Zeit, in der meine Integration bis zur Selbstverleugnung gegangen ist, weil ich hier dazugehören wollte. Das war bis ich 2012 von der Spezialisierung aus England zurückkam und ein Jahr zuvor meine Kinder auf die Welt gekommen sind. Ich fragte mich: Moment, wer bin ich eigentlich? Damals fand ich dann das Gleichgewicht: Ich bin manchmal ‹en huere Schwizer› und manchmal ‹en huere Albaner› – und das ist ok. Ich kann jetzt zu beidem sensationell stehen. Ich bin in der Regel super pünktlich, meistens sehr zuverlässig, aber auch direkt und emotional – das ist jetzt sicherlich nicht primär schweizerisch. Ich bin überzeugt, dass viele Migranten diesen Luxus nie erleben, weil sie entweder nie richtig Schweizer werden wollen, warum auch immer, oder weil sie zu sehr Schweizer sein wollen.

Was erhoffen Sie sich diesbezüglich für Ihre Kinder?

Ich hoffe, dass die Nationalität für meine Jungs kein Thema mehr spielen wird. Auch bei ihrer Partnerwahl. Die Herkunft soll höchstens noch was Exotisches ausmachen.

Auf was sind Sie stolz?

Ich denke, ich bin sicher nicht stolz auf meine Herkunft – für das kann ich ja nichts, das ist Zufall. Ich bin stolz auf meine Arbeit; dass ich das Privileg habe, immer wieder Menschenleben zu retten. Das ist etwas Grossartiges. Es ist ein Privileg aus dem Operationssaal zu gehen und Angehörigen zu sagen, dass die betroffene Person überlebt hat. Ich finde das toll, dass ich das geschafft habe, was ich in dieser Position leisten kann. Für das will ich auch in Erinnerung bleiben bei den Menschen. Nicht, ob ich Schweizer oder Albaner bin.

Wenn Integration nicht funktioniert, liege das vielfach an den Eltern, schrieben Sie 2012 in einem Artikel der Tageswoche.

Ich denke, Menschen die hier leben wollen, müssen sich aktiv bemühen. Als Kind ist das schwierig, deshalb müssen die Eltern schauen, dass ihre Kinder, die in der Schweiz aufwachsen, sich auch diesem Land zugehörig fühlen. Gleichzeitig muss die Schweiz zu ihren Kindern stehen.

Viele Eltern sind mit der Integration wohl selber überfordert.

Es gibt Menschen mit Migrationshintergrund, die seit 40 Jahren in der Schweiz leben und in dieser Zeit kein Deutsch gelernt haben. Die werden das auch nicht mehr lernen. Aber das ist ok. Die können zum Doktor, und wenn sie es nicht verstehen, versteht es jemand anders. Für eine jüngere Generation ist es aber sehr wichtig. Sie müssen sich zugehörig fühlen. Und das ist die Aufgabe von uns Einheimischen, aber auch von ihnen selbst.

Haben sich Ihre Eltern integrieren können?

Meine Eltern sind mässig integriert. Mein Vater spricht sehr gut Deutsch, hat auch Kollegen, die nicht Albaner sind. Meine Mutter spricht etwas schlechter Deutsch, hat sich nicht so richtig integriert. Sie war auch nicht im Berufsleben. Meine Eltern hatten ganz andere Voraussetzungen als ich. Aber, was heisst schon integriert, sie haben ein Haus in Aarburg, mein Vater arbeitet nach wie vor.