
Parteipolitik um Vierfachmörder Günther Tschanun: Spielt es eine Rolle, dass er SP-Mitglied war?
Kaum ein Kriminalfall hat die Schweiz derart aufgewühlt wie dieser. Am 16. April 1986 erschoss Günther Tschanun, damals Chef der Baupolizei in Zürich, vier Mitarbeiter mit einem Revolver. Die «SonntagsZeitung» zeichnete diese Tat und ihre Folgen gestützt auf neue Dokumente minutiös nach. Tschanun richtete die vier Untergebenen an ihrem Arbeitsplatz im Zürcher Amtshaus IV regelrecht hin, einen nach dem anderen.
Danach floh Tschanun mit dem Zug via Baden, Olten und Basel nach Frankreich, genauer nach Beaune, ein Städtchen im Burgund; in der Gegend wurde er dann später auch festgenommen. Sein Versuch, sich wie beabsichtigt selber umzubringen, war davor gescheitert.
Der Bericht der «SonntagsZeitung» enthüllt nun, dass Tschanun seit mehr als sechs Jahren tot ist. Bislang wusste man nur, dass er nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis im Jahr 2000 unter einem anderen Namen weiterlebte.
Erst durch den Totenschein wird die neue Identität des Mörders bekannt
Die «SonntagsZeitung» schreibt, auf dem Totenschein sei der Name Claudio Trentinaglia gestanden. Unter dieser Identität scheint er rund 15 Jahre lang ein unauffälliges Leben geführt zu haben. Dieses ging am 25. Februar 2015 abrupt zu Ende: Tschanun, inzwischen 73-jährig, starb bei einem Velounfall, unterwegs entlang der Maggia, wo er brutal gestürzt sein musste.
Nicht der Tod des Mörders, sondern seine Parteimitgliedschaft macht heute die «Weltwoche Online» zum Thema. Sie schreibt: «Ob Günther Tschanun seine SP-Mitgliedschaft bei der städtischen Anstellung in Zürich genützt hat, ist unbekannt. Zumindest in seiner österreichischen Heimat war solche ‹Parteibüchlwirtschaft › gang und gäbe.» Tschanun lebte in Wien, bevor er mit seiner Frau 1970 in die Schweiz zog.
Ex-SVP-Nationalrat mutmasst über Vorteile der SP-Mitgliedschaft
Autor des Artikels ist der frühere SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli. Er bezieht sich auf eine Passage in der «SonntagsZeitung», in der es heisst, Tschanun habe sich an seinem früheren Wohnort in Rüfenacht BE «in der SP engagiert». Tschanun habe im Dorf trotz seines Mitwirkens und seiner Hilfsbereitschaft kaum Freunde gehabt. Arbeitskollegen hätten ihn «einen perfekt getarnten Versager» genannt.
Darauf, dass Tschanuns Anstellung in irgendeiner Form mit seiner Parteimitgliedschaft zu tun haben könnte, gibt es keine Hinweise und schon gar keine Belege. Die Stadt Zürich als Arbeitgeberin war 1986 auch noch nicht rot-grün, sondern bürgerlich regiert.
Stadtpräsident war damals Thomas Wagner (FDP). Dieser führte mit Tschanun wenige Tage vor dem Mord ein Telefonat. Der Stadtpräsident beruhigte Tschanun nach einem kritischen Presseartikel, der Stadtrat stehe hinter ihm.
«Weltwoche»-Autor Mörgeli stellt noch eine zweite Mutmassung an. Dass die Journalisten damals die Parteimitgliedschaft von Tschanun unterdrückt hätten. «Angenommen, ein SVP-Chefbeamter hätte in jenen achtziger Jahren dieses fünffache Blutbad angerichtet: Wäre seine Parteimitgliedschaft medial auch so nobel verschwiegen worden?», fragt Mörgeli, um hinzufügen: «Die Frage stellen heisst, sie beantworten.» Allerdings gilt auch hier: Dass den Medien die Parteimitgliedschaft bewusst gewesen wäre und sie diese vertuscht hätten, davon ist nichts bekannt.
Was Mörgeli nicht erwähnt, aber eine Tatsache ist: Es gab damals wirtschaftskritische und linke Kreise, die Tschanuns Tat insofern zu verharmlosen versuchten, als sie in ihm ein Opfer struktureller Umstände sahen. Tschanun fühlte sich gemobbt, war verzweifelt und sagte gegenüber Psychologen, andere Menschen hätten in seiner Situation gleich gehandelt wie er.
Die «SonntagsZeitung» schreibt dazu: «Immer wieder fand er Helfer, die ihn in dieser Sicht bestärkten, die die Schuld im ‹unmenschlichen System› suchten.» In Leserbriefen wurde diese Sichtweise bisweilen geteilt. So hiess es in einer Einsendung: «Auch ich bin zwischen Hammer und Amboss in einem Grossbetrieb. Mehrmals habe ich in Gedanken oder im Traum Tabula rasa gemacht.»
Und beim Prozess vor Obergericht sagte eine Besucherin im Schweizer Fernsehen: «So etwas könnte einem auch passieren.»
Tschanun wurde von manchen zum Opfer eines kapitalistischen Systems mit unerträglichem Leistungsdruck stilisiert. Die Fakten widersprechen diesem Mythos ebenso wie die offensichtliche Tatsache, dass hier nicht ein kleiner Mann mächtige Leute gerächt hat, sondern dass der Mörder selber ein mächtiger Mann war – ein Chef, der das Leben von vier seiner Angestellten auslöschte und deren Familien in Verzweiflung stürzte.