Rassismus im Schweizer Alltag: «Es heisst sowieso, der Schwarze war’s»

Der Vater von Oliver M.* stammt aus dem Togo, seine Mutter aus dem zentralafrikanischen Staat Gabun. Sie lernten sich in den 70er-Jahren in Frankreich kennen, als beide dort studierten. Oliver M. kam in Paris auf die Welt, verbrachte aber seine Kindheit anschliessend im Togo. Mit jungen 21 Jahren machte er sich Richtung Köln auf, wo er eine Optikerausbildung absolvierte. Seit 2006 wohnt er in der Schweiz, wo er heute im IT-Support einer grossen Firma arbeitet. Er wohnt im Bezirk Zofingen und erzählt im Interview, wie ihm der Grossteil der Menschen in der Schweiz begegnet und – was er von der Bewegung «Black Lives Matter» hält. 

Herr M., wieso möchten Sie anonym bleiben? 

Ich habe meine Gründe, warum ich in der Öffentlichkeit nicht breit auftreten möchte. 

Im Moment bewegt «Black Lives Matter» viele Menschen auf die Strassen. Waren Sie auch schon an einer Demonstration? 

Nein. Es hat genug Leute, die dort sind. Die Nachricht kommt auch ohne mich gut an.

Interessiert Sie die Bewegung denn nicht? 

Doch, es ist wichtig, dass wir darüber reden. Aber ich bin doppelt belastet. Ich bin schwarz und schwul. Beide Themen sind für mich gleich wichtig. Also müsste es eine Demo geben, bei der es um beides geht. Dann würde ich vielleicht hingehen. 

Denken Sie, dass die Demonstrationen etwas Gutes für die Zukunft von Schwarzen bringen? 

Ich hoffe es, aber ehrlich gesagt bezweifle ich es. Überall, wo eine Tragödie geschieht, ist anfangs viel heisse Luft da. Nachher passiert sehr wenig bis nichts. Ähnlich ist es doch auch mit der Frauenbewegung. Seit den 50er-Jahren ist schon einiges passiert, aber es ist heute noch ein grosser Kampf. 

Ist Ihr Leben als Dunkelhäutiger in der Schweiz auch ein Kampf? 

Ich erlebe Rassismus jeden Tag. Es fängt an, wenn ich in den Bus oder Zug steige. 

Inwiefern?

Wenn ich früher durch den Zug lief, um mir einen freien Platz auszusuchen, reagierten Frauen wie Männer auf mich, als ob ich ein Straftäter wäre. Die Frauen fassten nach ihren Taschen und die Männer nach ihren Portemonnaies. Wie häufig habe ich erlebt, dass sich niemand zu mir ins Viererabteil wagte! Lieber sassen sie zu viert eng beieinander als bei mir zu sitzen. Das hat sich zum Glück ein wenig beruhigt. 

Wie fühlen Sie sich in solchen Situationen? 

Gut für mich, ich habe mehr Platz! (lacht) 

Und jetzt ehrlich? 

Natürlich tut es weh. Man fragt sich, was mit einem los ist. Bin ich etwa nicht so viel wert, dass sich jemand zu mir gesellt? Haben die Leute aufgrund meiner Hautfarbe Angst, dass ich ihnen etwas antue? Bin ich gleich ein Verbrecher? Wieso wechseln die Leute die Seite, wenn ich ihnen auf dem gleichen Trottoir entgegenkomme? Solche Fragen stelle ich mir dann.

Was war das Schlimmste, das Sie bislang an Rassismus in der Schweiz erlebt haben? 

Einmal war ich in einem Wellnessbad in Basel. Ich liebe Saunagänge. Als ich von einem solchen rauskam, setzte ich mich auf eine Bank und begann, ein Buch zu lesen. Gegenüber verliess gerade ein Schweizer Paar eine andere Sauna. Der Mann sah zuerst zu mir herüber, dann sagte er zu seiner Frau: «Die lassen hier mittlerweile auch jeden rein.» 

Das ist eine Frechheit! Haben Sie sich gewehrt? 

Nein, ich gehe grundsätzlich Konfrontationen aus dem Weg. Mein Schweizerdeutsch war am Anfang auch noch nicht so gut wie heute. Ich hätte mich gar nicht richtig ausdrücken können. Und sowieso: In dem Moment habe ich mit einer solchen Bemerkung überhaupt nicht gerechnet. Ich habe auch gar nicht gleich gemerkt, dass der Mann mit seiner Aussage mich meinte. Das habe ich erst viel später realisiert. 

Wieso meiden Sie Konfrontationen? Die Leute müssen doch merken, dass sie falsch liegen. 

Ich muss niemanden belehren. Es bringt eh nichts. Wenn sich die Polizei einschaltet, heisst es sowieso, der Schwarze war’s. Dieses Bild der Polizei habe ich einfach. Ich möchte nicht doppelt Opfer des Rassismus werden. Deshalb lasse ich die Leute in ihrem Glauben und gehe weiter meinen Weg. 

Fühlen Sie sich überhaupt wohl in der Schweiz oder denken Sie ans Auswandern? 

Nein, die Schweiz verlassen möchte ich nicht. Es ist eh fast überall auf der Welt gleich. Auch in Köln habe ich ähnliche Situationen erlebt, obwohl Köln eine Grossstadt ist und man vermutet, dass Vorurteile in Grossstädten eine kleinere Rolle spielen. 

Haben Sie denn Vorurteile gegenüber Menschengruppen? 

Ja, gegenüber Roma und Sinti.

Wieso denn das?

In Fernsehbildern sieht man, wie sie in vermüllter Umgebung wohnen. 

Das erscheint mir jetzt ein bisschen oberflächlich. 

Sie haben mich gefragt, ob ich Vorurteile habe, und ich habe ja gesagt. Trotzdem bin ich offen gegenüber neuen Bekanntschaften und gebe jedem Menschen eine Chance. Ich habe mittlerweile viele Roma kennengelernt und auch gute Erfahrungen gemacht. Meine Vorurteile ihnen gegenüber kommen wahrscheinlich von Bildern, die Leute zeigen, die im Dreck sitzen. 

Sie haben den Ursprung ihrer Vorurteile erkannt. Wäre es dann nicht wünschenswert, diese zu eliminieren? 

Es wird nie passieren, dass die Menschen keine Vorurteile mehr haben. Der Mensch ist einfach nicht perfekt. 

*Name der Redaktion bekannt

 

Haben Sie Vorurteile? 

In der Sommerserie «Achtung, fertig, Vorurteile» kommen Personen aus fünf verschiedenen Ländern zur Sprache. Dabei geht es im Allgemeinen über Vorurteile, aber auch um die persönlichen Erfahrungen. Nächste Woche ist der Kroate D.P. aus Aarburg Gast im Interview. Welche Vorurteile hegen Sie gegenüber Personen vom Balkan? Schreiben Sie mir auf katrin.petkovic@ztmedien.ch. Ausserdem folgen Dörte Gebhard aus Deutschland, Matthias Arnold aus der Schweiz und Chaha Abdullah aus Syrien. 

Leute aus Afrika reden laut und lachen viel. 

«Achtung, fertig, Vorurteile» – Das sagt Oliver M. zu den gängigen Vorurteilen gegenüber Afrikanern 

 

Das kann man nicht verallgemeinern. Natürlich gibt es Personen, die ins Schema passen, aber nicht alle. 

Leute aus Afrika sind in der Schweiz häufig Betrüger und straffällig. 

Ich war fünf Jahre lang arbeitslos. Ich musste schauen, wo ich unterkomme. Ich hätte mein ganzes Leben von der Sozialhilfe leben können, aber das wollte ich nicht. Mir war es wichtig, Fuss zu fassen, auch wenn das bedeutete, dass ich mich umschulen lassen musste. Auch das kann man nicht verallgemeinern. 

Leute aus Afrika sind sehr religiös. 

Ich bin eher der Meinung, dass Leute, die nicht so viel Geld haben, religiös sind. In Afrika gibt es viele verschiedene Religionen. Auch ich genoss eine religiöse Erziehung. Aber heute bin ich überhaupt nicht mehr religiös. Nicht etwa, weil ich reich wäre, sondern weil die Religion mich als Schwulen nicht akzeptiert. Wieso sollte ich dann meine Energie für so etwas aufwenden? 

Leute aus Afrika sind geborene Athleten. 

Das ist positiver Rassismus. Ich zum Beispiel bin überhaupt nicht sportlich (lacht). 

Afrikaner sind gute und herzliche Gastgeber. 

Das ist ja etwas Positives? Vorurteile sind für mich immer negativ. Ich kann das deshalb nicht beurteilen, das können Sie nach dem Interview besser sagen (lacht). 

Die Leute aus Afrika sehen alle gleich aus. 

Das kann ich nicht beurteilen. Was ich aber sagen kann: Wenn ich mit meinem weissen Partner durch die Stadt gehe und ihn plötzlich suchen muss, ist es für mich manchmal ziemlich schwer, ihn zu finden! 

Afrika ist arm und wird es immer bleiben.

Die Zukunft wird es zeigen. Früher hat man auch gesagt, dass China arm ist und es immer bleiben wird. Und heute ist das Land eine Weltmacht. Ich glaube daran, dass auch Afrika seine Zeit erhält. Nicht heute und morgen, aber eines Tages vielleicht. 

In Afrika ist es meist sonnig, heiss und trocken. 

Der Kontinent ist riesig, dort gibt es alles: Schnee, Regen, Berge, Wüste. 

Auf dem afrikanischen Kontinent können sich alle verständigen. 

Das stimmt nicht. Das ist ja nicht einmal in der Schweiz der Fall. In Togo, das etwa so klein ist wie die Schweiz, existieren über 600 verschiedene Ethnien, die alle einen anderen Dialekt sprechen. Manche Dialekte sind ein bisschen verwandt, andere hingegen überhaupt nicht. 

Afrikaner mögen grosse Familien und haben viele Kinder. 

Auch das hat wieder einen anderen Ursprung. In Afrika gibt es keine Altersvorsorge wie hier. Dort sind die eigenen Kinder die Altersversicherung. Man hofft, dass eines der zehn Kinder es schafft und viel Geld verdient, damit es einen im Alter versorgen kann. Ich bin beispielsweise überhaupt kein Familienmensch. Das letzte Mal, als ich meine Eltern im Togo oder meine Geschwister in Paris besucht habe, ist schon eine Weile her.