Regierungsrat Dieter Egli: «Alle Verästelungen der Krise können wir nicht abdecken»

Dieter Eglis Büro befindet sich im Wielandhaus, nur wenige Schritte vom Bahnhof Aarau entfernt. Er holt uns im Parterre ab. Sein Arbeitsweg habe sich durch die Nähe zum Bahnhof verkürzt, was für ihn eine Umstellung bedeutet habe, erzählt er uns auf dem Weg in den fünften Stock.

Dort führen wir – mit Maske und Abstand – das Gespräch in einem Sitzungszimmer. Der tägliche Weg ist nur ein Detail, Eglis Arbeitsleben hat sich vor gut drei Monaten grundlegend verändert. Am Samstag ist sein hundertster Tag als Regierungsrat.

Sie haben am 1. Januar 2021 ihre neue Stelle angetreten. Haben Sie Ihre Mitarbeitenden überhaupt schon einmal ohne Maske gesehen?

Dieter Egli: Ohne Maske nicht, und auch noch nicht häufig physisch. Ich habe mich mit einer Videobotschaft bei ihnen vorgestellt. Mit den Abteilungsleiterinnen und -leitern traf ich mich aber persönlich. Inzwischen besuche ich, mit Einschränkungen, die Abteilungen auch und sehe verschiedene Mitarbeitende.

Gibt es physische Regierungssitzungen?

Wir tauschen uns zwar mehrheitlich online aus, aber es gab auch schon Präsenz-Sitzungen. Bei kontroversen Geschäften mit Diskussionsbedarf geht es manchmal nicht anders. Aber selbstverständlich nur mit Abstand.

Arbeiten Sie auch im Homeoffice?

Ja. Aber ich habe viele Termine vor Ort, die ich wahrnehmen muss. Ich versuche, die Stosszeiten zu vermeiden, wenn ich nach Aarau komme. Ich bin auch nicht so gut darin, daheim zu arbeiten. Es fällt mir oft schwer, eine Struktur einzuhalten.

Ist das Homeoffice für Sie also kein Modell für die Zukunft?

Homeoffice hat Vorteile. Wenn man damit einen Effizienzgewinn erreicht oder auch ökologisch etwas herausholen kann, stelle ich mich gerne um.

Der 10. April ist Ihr hundertster Tag als Regierungsrat. Ist Ihnen der Start gelungen?

Ich denke schon. Bisher habe ich mich vor allem eingearbeitet. Die 100 Tage als Meilenstein machen aber offenbar schon Sinn: Ich merke, wie ich jetzt anfangen kann, wirklich zu gestalten.

Was war die grösste Umstellung?

In meinem früheren Berufsleben musste ich meine Ideen selber umsetzen. Jetzt habe ich Mitarbeitende, die sehr engagiert sehr gute Arbeit leisten und die das realisieren, was ich möchte. Damit muss man umgehen können.

Verunsichert Sie diese Verantwortung?

Manchmal etwas. Die Geschäfte haben jahrelange Vorgeschichten mit vielen involvieren Leuten. Vor diesem Hintergrund die Verantwortung für die Arbeit des gesamten Departements zu übernehmen, ist herausfordernd, aber auch sehr spannend.

Zur Person

Dieter Egli, Vorsteher Departement Volkswirtschaft und Inneres, wurde am 18. Oktober 2020 im ersten Wahlgang in den Aargauer Regierungsrat gewählt. Die SP verteidigte mit ihm den Sitz von Urs Hofmann. Der Windischer Egli wurde am 9. Mai 1970 geboren. 2002 wurde er in den Grossen Rat gewählt, ab 2008 war er Co-Fraktionschef der SP. In seinem früheren Arbeitsleben war der Soziologe Leiter Kommunikation und Mediensprecher bei der Gewerkschaft Syna. (eva)

Wie ging es mit dem Rollenwechsel vom Gewerkschafter zum Regierungsrat in einem Kollegium?

Ich gehe heute abgeklärter, vielleicht auch professioneller, mit Themen um. Zudem konnte ich früher eher wählen, womit ich mich beschäftigte. Jetzt habe ich mit Geschäften zu tun, die ich vorher weniger wahrnahm.

Haben Sie ein Beispiel?

Es sind Details, etwa gesetzgeberische Prozesse in den Gemeinden und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Wo ich früher schnell die ideologische Brille aufsetzen konnte, betrachte ich die Dinge heute differenzierter. Das Verhältnis zu einer Vorlage ist sachlicher, ob ein Entscheid dann politisch in meinem Sinn wäre, ist nicht immer das Wichtigste.

Sie sind der einzige Linke im Regierungsrat, damit dürften Sie häufig konfrontiert sein.

Die Mehrheitsverhältnisse sind klar, und mir ist bewusst, dass ich in der Minderheit bin. Es kann also nicht immer mein Ziel sein, zu gewinnen. Umgekehrt weiss die bürgerliche Mehrheit, dass 30 Prozent der Aargauerinnen und Aargauer links wählen und dass auch diese angesprochen werden müssen. Das ist eine Art und Weise, mit politischen Fragen umzugehen, die ich so nicht kannte. Es ist abgeklärter und weniger emotional oder ideologisch geprägt.

Was war in ihrem neuen Amt bisher am schönsten?

Für mich ist das schönste zu sehen, wie engagiert die Mitarbeitenden sind und wie verantwortungsvoll sie mit ihrer Aufgabe umgehen.

Kannten Sie das aus ihrer Zeit bei der Gewerkschaft denn nicht?

Doch, natürlich. Aber auf der Verwaltung arbeiten die Angestellten für die ganze Bevölkerung, diese Verantwortung ist ihnen bewusst. Dadurch entsteht eine Art Gemeinschaftsgefühl, das ich bei Organisationen und in der Privatwirtschaft so nicht erfuhr. Es ist eindrücklich, wie ich getragen werde: Das schlimmste, was mir bei der Arbeit passieren kann, ist, dass ich nachfragen muss. Das ist beruhigend, weil ich noch längst nicht alles weiss.

Womit haben Sie als Regierungsrat Mühe?

Brutal ist, einen Entscheid fällen zu müssen, der direkt die Existenz von Menschen beeinflusst. Das fährt schon ein – etwa bei der Verteilung der Corona-Hilfen.

Das ist Ihre Aufgabe als Volkswirtschaftsdirektor. Wie läuft das insgesamt?

Das ist insgesamt eine positive Geschichte in dieser Krise. Natürlich würden wir diese Arbeit lieber nicht machen müssen, aber sie ist motivierend – und sinnstiftend, weil wir Menschen helfen können.

Die Branchenverbände beklagen jedoch, die Hilfe reiche nicht aus. Wie erklären Sie das?

Alle Verästelungen der Krise können wir nicht abdecken. Das frustrierende für viele ist, dass sie nicht arbeiten dürfen, das können wir ihnen nicht abnehmen. In jedem System von finanziellen Hilfen gibt es zudem Spezialfälle, die durch die Maschen fallen. Dass es Diskussionen gibt, ist klar. Wir sind deswegen ständig mit den Branchenverbänden im Gespräch. Ich erhalte auch positive Rückmeldungen. Gerade bei den kleinen Unternehmen ist es erstaunlich, wie viel man mit den Beträgen auslösen kann.

Erholt sich die Aargauer Wirtschaft wieder auf das Niveau von vorher?

Es gibt Branchen, die relativ schnell wieder auf die Beine kommen werden. Das haben wir im letzten Sommer bei der Gastronomie oder im Detailhandel gesehen. Der Konsum kommt wieder, da bin ich optimistisch. Schwieriger wird es für die Exportwirtschaft, dort haben wir den Peak der Auswirkungen noch nicht erreicht. Auch im Tourismus fehlen die Perspektiven, weil niemand weiss, wann die Menschen wieder reisen werden. Das gleiche gilt für die Kultur und die Eventbranche, wo Planungssicherheit komplett fehlt.

Warum ist das mit der Exportwirtschaft so ein Problem?

Die Nachfrage ist zusammengebrochen. Es gibt in der Weltwirtschaft grosse Verwerfungen, man kann sich weniger auf die bisherigen Gesetzmässigkeiten verlassen. Auch der Tourismus ist extrem herausgefordert. Die fehlende Perspektive können wir mit Härtefallgeldern nicht lösen.

Das heisst, die Arbeitslosigkeit wird steigen?

Eine der Langzeitfolgen der Pandemie wird sein, dass wir Arbeitsplätze verlieren, leider einmal mehr in der produzierenden Industrie. Die Krise zeigt, dass jene, die es in der Arbeitswelt sowieso schon schwer haben, noch mehr unter Druck kommen. Schlecht Ausgebildete und Menschen in bereits prekären Verhältnissen sind immer die ersten, die leiden.

Braucht es also eher soziale als wirtschaftliche Massnahmen zur Bekämpfung der Langzeitfolgen der Krise?

Beides. Die Wirtschaftsmassnahmen sind jetzt elementar. Wenn die Nachfrage wieder da ist, muss die Wirtschaft bereit sein. Viele Arbeitnehmende müssen sich aber neu orientieren. Sie müssen sich entwickeln und an die Veränderungen anpassen können. Wir müssen ihnen diese Möglichkeit geben, etwa mit persönlichen Standortbestimmungen und Weiterbildungen. Wir sind jetzt im Sofort-Hilfe-Modus, aber diese Fragen dürfen wir nicht ausklammern.

Aktuell verlangt ein Vorstoss erleichterte Steuerabzüge für Weiterbildungen. Würde so etwas reichen?

Steuerliche Massnahmen sind ein Weg. Das andere wären gesetzgeberische Anpassungen zur Aus- und Weiterbildung. Da gibt es noch Möglichkeiten. Weiter sollte man auch wieder die Sozialpartner an den Tisch holen: Chefinnen, Angestellte und Unternehmer müssen gemeinsam Lösungen finden, damit alle eine Perspektive haben. Dort könnte der Kanton eine aktivere Rolle spielen.

Wo noch?

Auch die Integration von Migrantinnen und Migranten ist zentral und für mich eine ebenso wichtige Aufgabe wie die wirtschaftliche Hilfe. Wir müssen die Gesellschaft als Ganzes stärken, das habe ich schon vor Corona gesagt. Ich bin aber auch beeindruckt, was bei der Integration bereits im Gang ist, darauf kann man aufbauen.

Das wird aber im Aargau eher zurückhaltend erwähnt…

Das ist schade, denn es läuft viel. Bald steht die Verlängerung des kantonalen Integrationsprogramms an. Wichtig sind dabei die sieben regionalen Integrationsfachstellen, bei denen die Gemeinden beteiligt sind. Dieses Engagement wollen wir verbreitern und der Integration einen grösseren Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung geben. Die Gemeinden machen das schon längst. Kantonal ist das Thema noch weniger präsent.

Hat es in der Krise überhaupt Platz für anderes?

Das muss sein. Die Herausforderung ist, dass auch das normale Leben weiter geht und man einen Alltag findet. Wir wissen nicht, ob und wann wir die Krise einfach für beendet erklären können.

Eine andere Krise ist der Knatsch auf der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm. Warum lässt sich dieser nicht endlich lösen?

Das ist ein Arbeitskonflikt, den ich auch in anderen Situationen schon angetroffen habe und der lösbar ist. Auf der Staatsanwaltschaft ist es schwieriger, weil deren Arbeit exponiert ist, das ist eine neue Erfahrung für mich. Wir haben Begleitmassnahmen getroffen, und ich bin zuversichtlich, dass wir damit wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen. Die Qualität der Arbeit von allen stimmt, daran liegt es nicht.

Also ist es rein zwischenmenschlich. Sind Sie Schiedsrichter?

Ich will den Leuten Vertrauen geben – auch in sich selbst. Wer seiner eigenen Arbeit vertraut, kann auch mit schwierigen Situationen und zwischenmenschlichen Spannungen umgehen. Auch das gehört zur Professionalität.

Auch die Polizei war in diesem Zusammenhang Thema. Braucht es eine Einheitspolizei?

Das ist eine Frage des politischen Willens, die diskutiert werden muss.

Das wird schon lange gemacht.

Die Einheitspolizei ist nicht einfach logische Folge einer Entwicklung. Wir haben 2006 Ja zum dualen Polizeisystem gesagt, das hat sich bis jetzt bewährt. Es ist nicht eine fachliche, sondern eine politische Diskussion. Beides ist machbar und es gibt auch beide Systeme. Es ist aber illusorisch zu meinen, mit der Einheitspolizei kläre sich die Frage, was uns die Sicherheit auf kommunaler und auf kantonaler Ebene wert ist. Der Aargau hat im Kantonsvergleich schweizweit am wenigsten Polizeikräfte. Wir brauchen mehr Ressourcen, unabhängig vom System.

Was wäre ihnen persönlich am liebsten?

Mir ist das System am liebsten, das von der Bevölkerung getragen wird. Die Umfragen zeigen, dass sich die Leute mit dem dualen System wohlfühlen, aber etwas anderes kennen sie ja nicht. Darum gibt es dieses Jahr den Planungsbericht zum Thema. Ich will die Evaluation des Systems sorgfältig angehen – und dabei auf jeden Fall die politische Diskussion zulassen.

Zur Person

Dieter Egli, Vorsteher Departement Volkswirtschaft und Inneres, wurde am 18. Oktober 2020 im ersten Wahlgang in den Aargauer Regierungsrat gewählt. Die SP verteidigte mit ihm den Sitz von Urs Hofmann. Der Windischer Egli wurde am 9. Mai 1970 geboren. 2002 wurde er in den Grossen Rat gewählt, ab 2008 war er Co-Fraktionschef der SP. In seinem früheren Arbeitsleben war der Soziologe Leiter Kommunikation und Mediensprecher bei der Gewerkschaft Syna. (eva)