«Schwierige Situation» mit der EU: Altbundesräte Ogi, Koller und Villiger machen sich grosse Sorgen um die Zukunft der Schweiz

Die sieben Bundesräte trafen sich an jenem Montag des 18. Mai 1992 schon vor 7 Uhr zur Sitzung. Mit 4:3 Stimmen entschieden sie, Brüssel um die Aufnahme von Verhandlungen für einen Beitritt zur EU zu bitten. Das war ein Überraschungscoup ein halbes Jahr vor der Abstimmung zum EWR-Beitritt. Er gilt heute als wichtiger Faktor für das Nein.

Adolf Ogi verteidigt den Schritt: «Wir hatten eine Vision: Wir wollten Verhandlungen aufnehmen über einen Beitritt. Der Ständerat hatte uns diesen Auftrag per Motion erteilt.» Politisieren bedeute, «Visionen zu haben, auch Risiken in Kauf zu nehmen.»

Die drei Altbundesräte von 1992 melden sich zu Wort

Für Ogi (78) als SVP-Vertreter brauchte dieser Entscheid ausserordentlichen Mut. Er macht sich heute Sorgen um die Entwicklung des Landes, genauso wie Arnold Koller (87, CVP) und Kaspar Villiger (80, FDP). Die drei sind die noch lebenden Bundesräte von 1992. Sie melden sich nun zu Wort, da das Rahmenabkommen und das Verhältnis mit der EU auf der Kippe stehen.

1992 habe sich die Schweiz nicht «in einer so schwierigen Situation» befunden wie heute, sagt Ogi. Er wie auch Villiger und Koller sehen das Land an einer Weggabelung. «Die Schweiz wird wie beim EWR-Vertrag vor dreissig Jahren kaum um einen Richtungsentscheid herumkommen», schrieb Koller in einem Beitrag in dieser Zeitung.

Villiger sprach der aktuellen Regierung 2019 an einer Tagung der Denkfabrik Avenir Suisse ins Gewissen. «Sollte der Bundesrat endlich mutig seine Führungsverantwortung wahrnehmen und vorangehen, ist eine kreative Weiterentwicklung unseres Verhältnisses mit der EU im Interesse der Schweiz noch zu schaffen», betonte er.

Der Bundesrat im Jahr 2021, der entscheiden muss, ob er das Rahmenabkommen mit der EU will oder nicht. (Bild: Keystone)
Der Bundesrat im Jahr 2021, der entscheiden muss, ob er das Rahmenabkommen mit der EU will oder nicht. (Bild: Keystone)

Seine Worte von 2019, lässt Villiger ausrichten, seien nach wie vor gültig. Wie Ogi und Koller treiben ihn vier Fragen um zur Zukunft der Schweiz:

1. Wie reagiert die EU auf ein Nein?

Sieben Jahre ist es her, seit die Schweiz und die EU am 22. Mai 2014 die Verhandlungen zum Rahmenabkommen offiziell starteten. Noch immer weiss der Bundesrat aber nicht, was er tun soll mit dem Abkommen. In naher Zukunft trifft Bundespräsident Guy Parmelin EU-Präsidentin Ursula von der Leyen.

Achtmal traf der ehemalige EU-Präsident Jean-Claude Juncker einen Schweizer Bundespräsidenten, 23-mal sprach er per Telefon mit einem. Nachfolgerin Ursula von der Leyen traf 2019 Simonetta Sommaruga am WEF – und telefonierte 2020 zweimal mit ihr.

Die Hinhaltetaktik der Schweiz habe Folgen, glaubt Altbundesrat Koller. Es sei deshalb «kaum anzunehmen», dass es der EU nach einem Nein pressiere, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, schreibt er. «Wahrscheinlicher ist, dass ähnlich wie nach dem Nein zum EWR einige Zeit verstreichen würde.» Zehn Jahre dauerte es damals, bis die Bilateralen I am 1. Juni 2002 in Kraft traten.

2. Wäre ein Freihandelsabkommen die Lösung?

Das Modell Freihandelsabkommen gewann an Attraktivität, seit Grossbritannien Ende 2020 in letzter Sekunde ein Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU abschliessen konnte. Koller wie Villiger erteilen einem Freihandelsabkommen aber eine deutliche Absage.

«Ein Freihandelsabkommen wäre gegenüber dem heutigen Rechtszustand ein klarer Rückschritt», schreibt Koller. Und er wäre für die Schweizer Wirtschaft «mit grossen Nachteilen» verbunden. Villiger wiederum befürchtet, dass die Bilateralen bei einem Nein zum Rahmenabkommen massiv erodieren. «Der Endzustand dürfte der faktische Rückzug auf die Philosophie der Beschränkung auf ein Freihandelsabkommen auch gegenüber der EU sein», sagte er 2019. Dass es dann gelingen würde, «mit der EU ein besseres und weitergehendes Freihandelsabkommen abzuschliessen», taxiert er als «sehr unwahrscheinlich».

3. Wäre der EWR der richtige Weg?

Da unterscheiden sich die Auffassungen von Villiger und Ogi. «Der EWR liegt irgendwo zwischen dem bilateralen Weg und dem EU-Beitritt», hielt Villiger fest. «Er löst zwar das Problem der dynamischen Anpassung an das EU-Recht, aber er ist aus Sicht unserer Souveränität dem bilateralen Weg unterlegen.» Anders die Beurteilung von Ogi. «Vorher wäre der EWR der richtige Weg gewesen», sagt er. «Vielleicht definitiv! Norwegen hat ja damit seine Lösung gefunden.»

4. Wie soll es weiter gehen?

Vor fünf Jahren schlug Adolf Ogi an einem Kolloquium an der Uni Bern das System der zwei Körbe vor. «In den ersten Korb legen wir die bestehenden Abkommen mit der EU», sagte er damals. «Diese konsolidieren und verwalten wir. In den zweiten Korb legen wir alle anderen, scheinbar unüberwindbaren Probleme. Wir frieren sie ein und einigen uns mit der EU darauf, uns einige Jahre Zeit zu lassen, um diese Probleme zu lösen.» Die Schweiz und die EU träfen sich aber dreimal pro Jahr auf höchster Stufe. «In der Zwischenzeit machen wir uns gegenseitig keine Vorwürfe, es gibt keine Nadelstiche.» Für Ogi wäre das noch heute eine Option, um «mit Anstand» aus einer schwierigen Situation zu kommen. Mit einem ähnlichen Konzept reist Bundespräsident Parmelin offenbar nach Brüssel.

An jenem 18. Mai 1992 standen Villiger und Koller nicht auf Ogis Seite. «Es war der Entscheid, der mich in meinen zwölf Bundesratsjahren am meisten frustriert hat», sagte Koller. Ogi beurteilt ihn noch heute ganz anders. Er hatte das Gesuch persönlich um eine entscheidende Präzisierung ergänzen lassen: «C’est-à-dire l’ouverture de négociations à ce sujet.» (Das heisst, die Aufnahme von Verhandlungen zu diesem Thema). Damit war klar: Es ging um ein Gesuch zu Verhandlungen für einen Beitritt. Nicht um ein Gesuch für einen Beitritt. Ogi glaubt: «Damit hätten wir uns eine ausgezeichnete Grundlage geschaffen für ein gutes Verhältnis mit der EU auf Jahrzehnte hinaus.»

Das Rahmenabkommen

Im Moment bestehen die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU aus einem Netz von rund 20 zentralen bilateralen Abkommen und über 100 weiteren Abkommen. Das Rahmenabkommen soll dafür sorgen, dass die institutionellen Fragen künftig einheitlich und übergeordnet geregelt werden.

Das Abkommen, das die Schweiz und die EU in sechs Jahren ausgehandelt haben, beinhaltet unter anderem eine dynamische Rechtsübernahme und einen Mechanismus zur Beilegung allfälliger Streitigkeiten zwischen Bern und Brüssel. Dafür soll ein Schiedsgericht geschaffen werden. Der Europä­ische Gerichtshof (EuGH) nimmt aber in Fragen des Marktzugangs eine verbindliche Rechtsauslegung vor.