«Sonst hätte es schon früher ein Grounding gegeben»: SBB-Lokführer zweifeln Lösung des Personalmangels an

Es war ein Zeitungsartikel, der das Fass zum Überlaufen brachte. «Die SBB haben genügend Lokführer», titelte «20 Minutes» Ende Juli– und ein Lokführer aus Genf wollte das nicht so stehen lassen. «Die Realität an diesem Samstag sieht so aus: Alle Züge der S6 zwischen Lausanne und Palézieux fallen aus. Jeder zweite Zug der Linie SL5 Genf-La Plaine fällt aus. Bei mehreren Zügen gibt es Verspätungen von 45 Minuten», schrieb er Mitte September auf Twitter.

In den Tagen darauf gab der Lokführer weitere Einblicke. «Alle Regioexpress-Züge zwischen Vevey und Annemasse sind dieses Wochenende gestrichen», schrieb er am 27. September. Hinzu kämen weitere Ausfälle auf anderen Linien. «Der Oktober wurde bereits als «schwarzer Monat» angekündigt, was die Personalsituation betrifft».

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

Ende September reagierte die Bahn. In einer Mitteilung entschuldigte sie sich bei ihrer Kundschaft und dankte dem Personal. Wegen bereits kommunizierter Fehler in der Vergangenheit gebe es einen Mangel an Lokführern. Trotz aller Bemühungen sei es nicht immer möglich, so zu planen, dass alle Züge fahren könnten. In dieser Jahreszeit häuften sich auch die Krankheitsmeldungen.

Weil in den nächsten sechs Monaten 200 Lokführer ihre Ausbildung abschlössen, werde sich die Situation bis Ende 2021 wieder normalisieren. In Regionen wie der Westschweiz und Zürich werde sie noch bis Ende Oktober «besonders angespannt bleiben». Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

«Meldung erscheint seltsam»

Daran gibt es erhebliche Zweifel – und zwar vom Lokpersonalverband der Gewerkschaft des Verkehrspersonal (SEV-LPV). «Pressemitteilungen in diesem Sommer suggerierten, dass die SBB alles so aufgegleist hat, als wäre der Lokführermangel behoben», heisst es in einem aktuellen Schreiben an die Mitglieder, das CH Media vorliegt. «Für uns erscheint diese Meldung eher seltsam.»

«Leider wissen wir zu gut, dass es kaum Lösungen gibt, welche uns kurzfristig helfen», heisst es im Schreiben. «Wäre der Fahrplan in der ersten Corona-Welle nicht ausgedünnt worden und wäre der Eventverkehr nicht weggefallen, hätte es schon früher ein Grounding gegeben». Seit Ende August der Sommerfahrplan aufgehoben worden sei, sei der Lokführermangel «deutlich spürbar».

Verband rechnet mit fragilem Bestand

Mit einer raschen Besserung rechnet der Verband nicht. Die SBB hätten kommuniziert, dass der Bestand im nächsten Frühling um mehr als 100 Lokführer über dem Bedarf liege. Eine Überschlagsrechnung zeige, dass das nicht stimmen könne, denn es müssten auch Überstunden und Zeitguthaben abgebaut werden. Hinzu kämen übertragene Feriensaldi, Teilzeitgesuche, die bereits für nächstes Jahr bewilligt wurden, Burnouts und Krankheiten sowie junge Lokführerinnen und Lokführer, die in ihren alten Beruf zurückkehren wollen.

Statt von einem Überbestand gehe der SEV-LPV nächstes Jahr von einem «fragilen, ausgeglichenen Bestand» aus, sagt Präsidentin Hanny Weissmüller – und das auch nur, wenn keine grösseren Schwierigkeiten auftreten, die Einteilung «einwandfrei» funktioniert und Baustellen richtig geplant werden.

Fehlt den SBB eine Vision?

Den SBB fehle eine Vision. «Sie muss auf eine langfristige Personalplanung ausgelegt werden», sagt Weissmüller. «Gleichzeitig müssen marktgerechte Entlöhnung, mitarbeiterfreundliche Rahmenbedingungen sowie die Wertschätzung des Berufes wieder in den Mittelpunkt gebracht werden.»

Die SBB geloben Besserung. «Schweizweit werden in den nächsten sechs Monaten 200 Lokführerinnen und Lokführer ihre Ausbildung abschliessen», sagt Sprecher Daniele Pallecchi. «Damit normalisiert sich die Situation beim Lokpersonal weitgehend wie angekündigt bis Ende 2021. So haben wir ab 2022 genügend Personal, um mit dem Abbau der aufgebauten Zeitkonti zu starten und auch Krankheitsausfälle und so weiter abzufedern, was aktuell vor allem in der Westschweiz eine grosse Herausforderung darstellt.»

«Tritt in den Hintern»

Die Rekrutierung sei vor 2019 zu defensiv geplant worden, was die Bahn korrigiert und deshalb Zusatzklassen rekrutiert habe. «Diese werden wir weiterführen», sagt Pallecchi. Die Coronakrise habe zu Einschränkungen bei der Aus- und Weiterbildung geführt, was die herausfordernde Situation um ein paar Monate verlängert habe.

Wird der Personalmangel endlich behoben – oder fallen auch nächstes Jahr Züge aus? Der Lokführer aus Genf dürfte der Bahn weiterhin auf die Finger schauen. Nachdem die SBB endlich über die Ausfälle informierten, setzte er einen erneuten Tweet ab: «Ich habe den SBB vielleicht einen nützlichen Tritt in den Hintern gegeben».

Personalmangel auch bei SBB Cargo: Bis zu 15 Lokführer pro Tag

Laut dem SEV-LPV ist auch die Güterverkehrssparte SBB Cargo vom Personalmangel betroffen. Bis zu 15 Lokführerinnen und Lokführer fehlten jeden Tag. Die Reaktion von SBB Cargo auf diesen Mangel sei dem Verband noch nicht klar. Laut SBB-Sprecher Martin Meier ist die Situation bei SBB Cargo bezüglich Lokpersonal «wie in der gesamten Branche angespannt». Vor allem die grossen Standorte Dietikon und Bellinzona seien betroffen. Dank des grossen Engagements und der Flexibilität der Lokführerinnen und Lokführer könnten die Kunden trotzdem planmässig bedient werden. Wenn mehrere Personen wegen Krankheit kurzfristig ausfielen, könnten diese Ausfälle normalerweise durch Verlagerungen zwischen den Standorten kompensiert werden. SBB Cargo arbeite an verschiedenen Lösungen, etwa mit der Rekrutierung von Personal für die betroffenen Standorte, Weiterbildungen und dem temporären Bezug von Leistungen bei Drittanbietern. (ehs)