
Soziologin über soziale Erwartungen in der Pandemie: «Es reicht, wenn jemand böse schaut»
Die Wissenschaft rät, die Politik entscheidet. Doch ob die Bevölkerung die Coronamassnahmen zuverlässig umsetzt, hängt von sozialen Regeln und Dynamiken ab. Die Soziologin Katja Rost weiss, wie wir funktionieren, und erklärt, warum für die Pandemiebewältigung eine zentrale Instanz genauso wichtig ist wie kontroverse Diskussionen.
Frau Rost, wie bringt man Menschen dazu, sich an Regeln zu halten?
Es braucht im Grunde nicht viel. Es reicht oft schon, wenn Sie jemanden im Tram böse anschauen. Menschen ist es grundlegend unangenehm, von anderen verurteilt zu werden. Sie wollen angenommen und akzeptiert sein. Wir wollen keine sozialen Sanktionen erleiden. Also nehmen wir ein spezifisches Verhalten, eine soziale Norm, deren Erfüllung von uns erwartet wird, vorweg.
Sind wir Schweizer als Kontrollpolizei da besonders prädestiniert? Wir halten uns ja gern an Regeln.
Ja, das stimmt – was aber nicht heisst, dass die Schweiz ein Einzelfall ist. Oder, dass Kontrollverhalten per se negativ wäre. Recht und Ordnung können nur eingehalten werden, wenn wir uns alle darum bemühen. Der Staat kann ja nicht überall präsent sein. Wir denken: Wenn ich die Kosten auf mich nehme, dann sollen das die anderen auch tun. Deshalb kontrollieren wir andere.
Das kann fatale Folgen haben. Nehmen wir den Zweiten Weltkrieg als Beispiel. Wie bemerken wir, ob es kippt?
Gar nicht, das ist das Schwierige daran. Wir müssen dem Staat vertrauen können, dass er keine versteckte Agenda hat. Das war im Dritten Reich aber der Fall. Und natürlich ist auch wichtig, dass die Regeln, die umgesetzt werden, den Bevölkerungskonsens widerspiegeln. Im Dritten Reich haben Schweigespiralen dominiert. Das Beste ist generell, wenn Diskussionen transparent geführt werden. Vielleicht hätten weniger Anti-Corona-Demonstrationen stattgefunden, hätten wir die Coronakrise kontroverser in der Öffentlichkeit diskutiert.
Anti-Corona-Demonstrationen finden also statt, weil ein zu starker öffentlicher Konsens besteht?
Es wurde ein grosser politischer Mainstream geschaffen, eine Standardauslegung – medizinisch, politisch, wirtschaftlich. Gegenteilige Meinungen wurden häufig als unwissenschaftlich und unethisch abgetan. Das sorgt dafür, dass vorgegeben wird, welche Meinung die Majoritätsmeinung ist.
Nun, viele würden nach wie vor sagen, dass es eine richtige Haltung in dieser Debatte gibt.
Fakten können richtig oder falsch sein, Meinungen nicht. Es geht eher um die gesellschaftliche Auslegung. Grundsätzlich ist es in den meisten Fällen ungefährlich und normal, privat eine andere Haltung zu haben als das, was in der Gesellschaft gerade als Mehrheitsmeinung gilt.
Wann wird es problematisch?
Erst wenn die vermeintliche Meinung in der Öffentlichkeit gar nicht die echte ist. Das ist in autoritären Regimes der Fall. Es wird ein öffentliches Bild konstruiert davon, was als schicklich gilt, was als erstrebenswert, was als falsch, obwohl viele Menschen das für sich gesprochen gar nicht unterstützen würden. Das sieht man beispielsweise auch bei Umfragen zu: «Wie oft haben Sie Sex in der Woche?» Jeder meint, die anderen hätten mehr, und so bilden sich vermeintliche sexuelle Normen oder Wunschbilder. In Tat und Wahrheit hat aber ehrlicherweise ja kaum einer so viel Sex, wie in den Umfragen jeweils angegeben wird. Nur weiss das ja niemand, weil die Leute schweigen.
In Tat und Wahrheit treffen sich auch mehr Menschen miteinander, als der Bundesrat vorgibt. Ist eine 5er-Regel überhaupt sinnvoll?
Es geht nicht so sehr um eine magische Zahl, auf die sich alle festsetzen. Gesellschaften funktionieren nicht schwarz oder weiss. Aber gewisse Regeln helfen, Bewusstsein zu schaffen. Wenn ich weiss: Ah, nur fünf Menschen sind erlaubt, dann wird mir bei zehn Leuten mulmig. Darum geht’s.
Wie kommt es, dass dieselben Massnahmen an unterschiedlichen Orten unterschiedlich wirken?
Weil nicht alle Kulturen gleich funktionieren. Appenzeller jodeln nun mal lieber, dann wird das eher zum Superspreader-Event. Im Tessin ist es härter, sich nicht mehr zu umarmen als in Zürich, wo die Leute sowieso schon distanzierter sind.
Vieles wird uns aber von der Politik vorgegeben, unabhängig von kantonalen Unterschieden. Warum akzeptieren wir Menschen diese politische Dominanz so einfach?
Eine Gesellschaft ohne Staat funktioniert nicht, sie kann sich sehr schlecht selbst organisieren. Wir sind als Einzelne nicht in der Lage, kollektive Probleme ohne Staat zu lösen. Die Pandemie zeigt das sehr deutlich: Es braucht eine zentrale Instanz, die dafür sorgt, dass Richtlinien erlassen werden.
Macht die Politik aus Ihrer Sicht gerade alles richtig?
Ich finde, der Bundesrat macht das gut. Die Führung wirkt überlegt und die Massnahmen sind meist auch gut begründet.
Meist?
Er könnte besser begründen, warum gewisse Dinge nun gelten und andere nicht. Warum man ausgerechnet Weg X wählt und nicht einen anderen. Es gibt wenig Pro- und Contra-Vergleiche, was den Menschen nicht genug die Möglichkeit gibt, die Entscheidungen in ihrer Gänze sachlich nachzuvollziehen. Auch fehlt langfristige Planung. Mögliche Best- und Worst-Case-Szenarien für die nächsten Monate (und nicht nur Tage oder Wochen) frühzeitig kommunizieren, wäre schon nicht schlecht. Da hält man die Bevölkerung für begriffsstutziger, als sie ist.
Wie sieht Ihrer Meinung denn eine perfekte Öffnung aus?
Wenn wir uns die Grundbedürfnisse des Menschen ansehen, sind das: Autonomie, soziale Zugehörigkeit und Kompetenzerleben, sprich mitgestalten dürfen. Corona hat alles dahingerafft. Aus gesellschaftlicher Sicht und aus Kosten-Nutzen-Abwägungen wäre von mir aus gesehen zentral, bei der sozialen Zugehörigkeit anzusetzen und langsam, kontrolliert, aber flächendeckend wieder mehr soziale Interaktion zu ermöglichen. Man muss ja nicht gleich Diskotheken und Fussballstadien öffnen.
Aber? Welche Möglichkeiten sehen Sie derzeit?
Den Leuten entgegenkommen, der breiten Masse. Das ist jetzt zentral. Die Politik muss dem Frust der Menschen, der stetig zunimmt, etwas entgegensetzen können. Museen zu öffnen wäre unproblematisch, solange es ein Schutzkonzept gibt. Kultur wieder zugänglich machen. Menschen brauchen auch Ablenkung, das stärkt sie für die nächste Krise. Wir müssen eine Balance finden zwischen neuen Freiräumen und wegen Corona eingeführter Sicherheits-Regeln. Und wichtig ist auch, nicht zu vergessen: Nicht noch mehr Regeln einführen. Lieber bei den alten bleiben und einzelne lockern. Das fördert das Verständnis auf allen Seiten.