Stephan Eicher setzt die Segel wieder und lässt das Publikum den Eintritt bestimmen

«Floss der Unnötigen»

Das ankert derzeit in Bern. Weitere Halte sind unter anderem in Chur, Basel und Engelberg geplant . Weitere Infos und Tickets: www.stephan-eicher.com

Es gibt Orte, die gibt es eigentlich gar nicht. So einer ist die ­Villa Morillon bei Bern. Nach drei Kebab-Ständen und spürbarem Verdichtungsdruck links abbiegen und in einer Parkanlage von Roger-Federerschem-Ausmass ankommen. Und dann steht da ein Floss. Es ist das Floss von Stephan Eicher. «Das Floss der Unnötigen» nennt er es. «Unnötig» deshalb, weil er sich als Künstler in dieser Pandemie auf ein Abstellgleis gestellt gefühlt hatte. Oder eben: Ausgesetzt auf einem Floss, den Strömungen und dem Wellengang überlassen. «Wir hatten nie eine Ahnung, ob und wann wir wieder spielen können», sagt Eicher.

Die «Unnötigen» wollen sich wieder «nötig» fühlen

Er sagt es auf dem Floss. Es schwimmt nicht. Die Wellen sind weniger geworden. Es steht einfach da, hingebaut vor die Villa Morillon, die irgendwie Kulisse und irgendwie Teil des Ganzen ist. Zu viert sitzen sie da und spielen. Und reden. Beziehungsweise: Reden tut an diesem Freitag der Eicher. Er erzählt viel. Zuhören tun handgeschätzte 200 Personen auf Bänken oder Stühlen, und ein paar vereinzelte Revoluzzer stehen gar, aber ganz hinten. Sie alle halten die «Unnötigen» doch für nötig. Und es gibt noch unzählige weitere Konzertabende quer durch die Schweiz.

Wie fest «nötig» die «Unnötigen» sind, kann jede und jeder Einzelne selber bestimmen: Der Eintrittspreis ist frei wählbar. Er habe, sagt Eicher auf dem Floss, «schon kurz nachgeschaut, was die Leute so bezahlt haben». Der Blick habe ihn zufriedengestellt: Es sei ordentlich bezahlt worden. Ob man den Wert der Kultur allein damit beziffern kann, wie locker das Geld beim Publikum sitzt, sei dahingestellt.

Stephan Eicher bei einem Konzert in Luzern.

Stephan Eicher bei einem Konzert in Luzern.

Nadia Schärli

Es gibt tatsächlich etwas fürs Geld. Neben dem Konzert ist auch ein schönes und reichhaltiges (vegetarisches) Apéro-Plättli inklusive und das Weinglas gefüllt. Es ist ein unfassbar schöner Ort. Das Leben von draussen wackelt leicht über die hohen Hecken. Polizeisirenen hallen durch den Abend, Zugbremsen quietschen, und immer mal wieder hupt ein Auto. All das verliert sich aber in der Weite des Parks. Bestechend klar und druckvoll ist dafür das Geschehen auf dem Floss. Eicher spielt sich durch seine Lieder. Spielt auch einen unveröffentlichten Song aus der Feder von Martin Suter («Lieblingsleben») und strahlt stets eine beeindruckende Präsenz aus. Simon Baumann am Schlagzeug, Simon Gerber am Bass und Reyn Houwehand am Piano gelingt es, einen musikalischen Teppich zwischen Souveränität und Spielfreude zu legen.

Dem Himmel geht das Licht aus

Über allem segelt aber stets ­Kapitän Eicher. Er tut das unaufdringlich. Knapp 1½ Stunden spielen sie, dem Himmel geht langsam das Licht aus, in der ­Villa brennen ein paar Kronleuchter. Eicher spricht viel von Dankbarkeit an diesem Abend. Über all die Möglichkeiten, die sich ihm doch noch ergeben haben. Etwa dank der Besitzerfamilie der Villa Morillon, die ihm nicht nur die Konzerte ermöglicht, sondern das Haus auch als Übernachtungsplatz und Studio zur Verfügung stellt. Auch dem Bund dankt er, schliesslich hat er ja unlängst den Grand Prix Musik erhalten – rund 100’000 Franken.

Und doch: Eicher fühlt sich offenbar auch mit all diesen Privilegien noch wie ein Ausgesetzter auf einem Floss. Die Demut geht ihm an diesem Abend bei allen ausgesprochenen Verdankungen etwas ab. Wenn all die Kulturschaffenden pandemiebedingt tatsächlich auf einem Ozean aus Verboten und Einschränkungen ausgesetzt waren, so war das Floss von Eicher zumindest mit allerlei Rettungsbooten und mindestens einer Antriebsmaschine ausgestattet. Angst vor dem Ertrinken brauchte er nie zu haben. Sein «Floss der Unnötigen» war stets eher ein Dampfschiff.

Deutlich spürbarer und authentischer ist der private Wellengang bei Eicher. Das Virus hat seinen beiden Eltern im Pflegeheim in Bern den letzten Atem genommen. Eicher blickt ins Publikum und sagt, «für mich sitzt ihr eigentlich alle etwas zu nahe zusammen, so ganz ohne Masken». Lächelt ein Lachen, das die Unsicherheit und den Schmerz überdecken soll. Es gelingt nicht recht. Und ist gerade deshalb einer der stärksten Momente des Abends.

Nach «Rosmarie und i» (eigentlich von den Rumpelstilz) entschwindet das Publikum wieder durch die Tore der Villa. Der Wind ist stärker geworden. Das Floss bleibt. Das Segel ist längst eingezogen. Der Sturm ist vorbei – hoffentlich. Unnötig wird jetzt bald anderes, und wir können wieder alle auf einem Floss gemeinsam im Boot sitzen.