
SVP-Chef Chiesa: «Wegen der Zertifikatspflicht verlieren Menschen ihre Stellen, die Gewerkschaften schweigen – wir verteidigen Grundrechte»
Es regnet in Lugano. Marco Chiesa geht durch die Strassen und grüsst alle 50 Meter jemanden. «Der da ist der Fraktionschef der CVP im Stadtparlament. Und der ist von der SP, trotzdem ist er nett.» Das Büro des SVP-Präsidenten liegt in einem nüchternen Komplex, der an einen grossen Aldi angebaut ist.
Sie sind seit einem Jahr Präsident der SVP. Ist das Amt so, wie Sie es sich vorgestellt hatten?
Marco Chiesa: Wir haben eine Reihe von Erfolgen feiern können: Das Volk hat das Verhüllungsverbot angenommen, das CO2-Gesetz abgelehnt, und der Bundesrat hat das EU-Rahmenabkommen beerdigt.
In der Deutschschweiz ist Ihre Präsenz nicht besonders gross.
Wie kommen Sie darauf? Ich bin in allen Sprachregionen des Landes präsent.
Sie haben eine Polemik gegen die Städte losgetreten. Einerseits kritisiert die SVP die rot-grünen Stadtregierungen, anderseits legt sie lückenhaftes Zahlenmaterial vor – die Steuererträge der Unternehmen in den Städten berücksichtigt sie zum Beispiel nicht. Glauben Sie nicht, dass ein solcher Angriff verpufft?
Es geht uns um die links-grüne Politik und Monokultur in den Kernstädten sowie um eine Analyse der Finanzflüsse. Dabei stellen wir die Steuerleistung der Menschen in den Städten und auf dem Land den staatlichen Leistungen gegenüber, die sie beziehen. Dabei wird klar, dass auf dem Land Geld erarbeitet wird, das Rot-Grün in den Städten umverteilt.
Warum finden die bürgerlichen Parteien in den Städten seit Jahrzehnten kein Rezept gegen Rot-Grün?
In den Städten wurden Privilegien geschaffen, etwa für die vielen Angestellten der Verwaltung: Sie haben mehr Ferien und höhere Löhne, bessere BVG-Leistungen, gehen früher in Pension und vieles mehr. Ein normaler Angestellter und Steuerzahler kann davon nur träumen. Von diesem System profitieren mittlerweile so viele Leute, dass es sich kaum mehr ändern lässt. Deshalb ist Kostenwahrheit wichtig – wenn die Städter selber für ihre Privilegien bezahlen müssten, dann wäre bald Schluss damit.
Die Kantone, die in den nationalen Finanzausgleich einzahlen, sind fast alle städtisch geprägt: Basel-Stadt, Genf, Zürich, Zug. Ohne die Städte wäre die Schweiz ein armes Land. Wie soll der Kulturkampf gelingen, den Sie initiieren?
Wer führt denn diesen Kulturkampf? Schauen Sie die Abstimmungsresultate an. 62 Prozent der Stadtberner waren für die linksextreme 99-Prozent-Initiative, in den Agglomerationen und auf dem Land lag die Zustimmung bei unter 30 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigte sich bei den Abstimmungen zum CO2-Gesetz und zu den Agrar-Initiativen. Wir haben diesen Graben nicht aufgerissen. Der alleinige Blick auf den Finanzausgleich greift zu kurz. Wenn man alle Faktoren einbezieht und schaut, was beispielsweise der Stadtzürcher oder der Lausanner vom Staat erhält und was er dafür bezahlt, dann zeigt sich ein klares Ungleichgewicht zu Lasten der Land- und Agglomerationsbewohner.
Zürich wird abwechslungsweise mit Wien zur Stadt mit der höchsten Lebensqualität gewählt. Irgendetwas müssen die Stadträte der SP und der Grünen richtig machen.
Ich wiederhole mich gerne: Wir kritisieren nicht die Städte, sondern die links-grüne Umverteilungspolitik der Städte.

Marco Chiesa, SVP-Parteipräsident und Ständerat, in Lugano.
Im Kanton Aargau haben gerade Lokalwahlen stattgefunden. Die Stadt-Land-Kontroverse interessierte niemanden, die SVP stürzte ab. Sie reiten ein totes Pferd.
Wir haben eine wichtige Debatte angestossen, die uns noch lange beschäftigen wird. Im Aargau ist der Stadt-Land-Graben weniger ausgeprägt; hier findet das private Unternehmertum noch einen fruchtbaren Boden. Unsere Ortssektionen müssen überall auf die Themen eingehen, welche die Menschen beschäftigen.
Die Schweiz unterstützt die Landwirtschaft jedes Jahr mit 5 Milliarden Franken. Das Geld fliesst aufs Land. Die Städter, die Bioprodukte konsumieren, zahlen hohe Preise.
Die Direktzahlungen belaufen sich auf 2,8 Milliarden. Sie dienen auch dem Schutz unserer Landschaft. Wer Bioprodukte konsumieren will, tut das freiwillig. Die 80 Millionen für das Opernhaus Zürich hingegen muss auch die Landbevölkerung zahlen, ob sie will oder nicht. Das gleiche gilt für den öffentlichen Verkehr: Die Benutzer kommen nur für 40 Prozent der Kosten auf. Automobilisten bezahlen hingegen deutlich mehr, als der Individualverkehr kostet.
Der neue FDP-Präsident Thierry Burkart sagt, die SVP verlängere die Pandemie. Hat er recht?
Es geht um die Verhältnismässigkeit der Massnahmen. Laut dem Bundesamt für Gesundheit sind bis jetzt 300 Personen in Zusammenhang mit Covid gestorben, die jünger als 60 waren. 90 Prozent der Todesfälle betrafen Personen über 70. Wir forderten bereits im März 2020 Schutzmassnahmen für diese Risikogruppen. Laut der Studie Corona Immunitas, an der zwölf Schweizer Universitäten beteiligt sind, sind inzwischen mehr als 90 Prozent der Menschen im Risikoalter immunisiert, sprich geimpft oder genesen. Der Bundesrat hätte, wie im April angekündigt, alle Massnahmen aufheben können, nachdem alle, die dies wollten, geimpft waren. Im Sommer verzichtete der Bundesrat auf Kontrollen an den Grenzen – mit bekannten Folgen. Es sind klar andere, welche die Pandemie verlängern.
Alle Massnahmen aufheben? Wenn die Intensivstationen in den Spitälern stark belegt sind?
Niemand hat mir bisher erklären können, warum die Zahl der Intensivbetten reduziert worden ist. Von über 1100 im Dezember auf rund 850.
Warum solidarisiert sich die SVP mit den Coronaskeptikern, statt einen Beitrag zu einer hohen Impfquote zu leisten?
Wir verteidigen Grundrechte wie Freiheit und Demokratie. Und wir thematisieren als einzige grosse Partei die Verhältnismässigkeit der Massnahmen. Wir haben von Anfang an den gezielten Schutz der Risikogruppen gefordert. Dazu gehört auch die Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Aber es darf keinen Impfzwang geben. Dass sich jetzt noch Kinder oder Schwangere impfen lassen sollen, das ist ein massiver Übergriff. Auch die 50 Franken-Prämie ist lächerlich.
Die SVP war Anfang Jahr für eine Aufhebung der Beschränkungen. Fast niemand war geimpft, und die Delta-Variante breitete sich aus. Hätte der Bundesrat auf die SVP gehört, wären die Folgen katastrophal gewesen.
Offensichtlich kennen Sie unsere Positionen nicht. Wir haben gefordert, den schädlichen und milliardenteuren Lockdown aufzuheben. Aber die bewährten Schutzkonzepte beizubehalten.
Warum sind Sie gegen das Covid-Zertifikat? Es erlaubt den Menschen den Besuch von Veranstaltungen, obwohl die Infektionszahlen recht hoch sind.
Unsere Haltung ist, dass das Zertifikat eine Dienstleistung sein soll, etwa zum Reisen. Im Alltag angewandt ist es aber eine Grundlage für Diskriminierungen. Wir haben uns gegen die staatliche Ausweitung der Zertifikatspflicht auf Freizeit-Aktivitäten gewehrt. Wegen der Zertifikatspflicht verlieren Menschen ihre Arbeitsstellen – bezeichnenderweise schweigen die Gewerkschaften.
Stadt-Land-Kontroverse, Coronapolemik – die SVP versucht, ihre Anhänger aufzustacheln, die etwas träge geworden sind. Lösungen für Probleme präsentiert sie keine.
Dieser Vorwurf ist billig. Wir legten früh eine Strategie für den Umgang mit der Pandemie vor. Diesen Sommer präsentierten die Nationalrätinnen und Unternehmerinnen Diana Gutjahr und Magdalena Martullo ein Positionspapier mit Vorschlägen zur Stärkung der Schweizer Wirtschaft. Leider praktisch ohne Medienecho.
Die bürgerliche Zusammenarbeit im Bundesparlament – warum funktioniert sie nicht besser?
Enttäuschend war, dass die FDP bei der Kohäsionsmilliarde ihre Prinzipien vergessen hat und trotz Diskriminierung seitens der EU Ja gesagt hat. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass wir mit FDP-Präsident Burkart gut zusammenarbeiten; er ist auf unserer Linie. Mit Kritik an der SVP versucht er, den linken Flügel seiner Partei abzuholen. Bei der Rettung der Sozialwerke, Freihandelsverträgen und der Abwehr wirtschaftsfeindlicher Initiativen von Rot-Grün braucht es den geschlossenen Einsatz der SVP mit anderen bürgerlichen Parteien.
Wie stehen Sie zur Forderung nach einem höheren Rentenalter? Wie soll die AHV saniert werden? Die Schweizer sorgen sich um die Renten.
Der Vorschlag, der jetzt auf dem Tisch liegt und der unter der Führung der SVP entstand, ist gut. Er sieht eine Angleichung des Rentenalters von Mann und Frau mit Ausgleichszahlungen vor. Ich bedaure es, dass die Erträge der Nationalbank aus den Negativzinsen nicht in die AHV fliessen. Noch mehr enttäuscht mich aber die Linke. Sie torpediert jeden Versuch, tragfähige Lösungen zu finden.
Toni Brunner sagte auf Blick-TV, dass er Mitglied der SVP-Findungskommission sei für die Nachfolge von Ueli Maurer im Bundesrat. Wenn es eine solche Kommission bereits gibt, rechnen Sie damit, dass Maurer demnächst zurücktritt?
Die Verbreitung falscher Gerüchte über einen Rücktritt Maurers in der Herbstsession habe ich zur Kenntnis genommen. Die erwähnte Kommission gibt es seit 2019, weil eine Partei vorbereitet sein muss, falls ein Exponent zurücktritt.
Welches Ziel setzen Sie sich für die Wahlen von 2023?
Wir setzen uns ein für die Menschen, die früh aufstehen, um ihre Familien und das Land voranzubringen. Wenn wir gute Arbeit für den Mittelstand leisten, werden wir an den Urnen belohnt.
Zur Person: Marco Chiesa
Marco Chiesa wurde im August 2020 zum Präsidenten der SVP gewählt. Er ist in Lugano aufgewachsen und studierte Betriebswirtschaft an der Universität Freiburg. In den Nationalrat wurde er im Jahr 2015 gewählt, schon 2019 gelang ihm dann zur allgemeinen Überraschung der Sprung in den Ständerat.