
Verkehrspsychologe: «Poser werden eins mit ihrem Auto»

Zur Person
Urs Gerber ist Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und unterrichtet am Institut für Soziale Arbeit und Gesundheit. Der 63-Jährige führt zudem in Zürich eine eigene Praxis für Psychotherapie und führt in diesem Rahmen Verkehrstherapien durch.
Die Aarburgerinnen und Aarburger ärgern sich über sogenannte Autoposer. Mit knallenden Auspuffen und heulenden Motoren fahren diese durch das Städtchen oder die beiden Tunnel. Der Ärger ist so gross, dass auf www.petitio.ch in den letzten 14 Tagen über 550 Unterschriften gegen Autoposer und ihre lärmenden Autos gesammelt wurden. Doch wer sind diese Autoposer und Raser, die die Gunst der Stunde nutzen und die leeren Strassen zu ihrem Spielplatz erklärt haben? Urs Gerber von der Fachhochschule Nordwestschweiz kennt sie. Neben seiner Tätigkeit als Dozent führt er eine eigene Praxis für Psychotherapie in Zürich. Dort hat er im Rahmen von Verkehrstherapie oft mit alkohol- und verkehrsauffälligen Fahrzeuglenkern zu tun, die ihren Ausweis verloren haben.
Herr Gerber, wer sind die alkohol- und verkehrsauffälligen Fahrzeuglenker, die zu Ihnen in die Praxis kommen?
Urs Gerber: Das sind Menschen, denen ihr Führerschein infolge eines Warnungs- oder Sicherungsentzuges abgenommen wurde und ihn nun zurückwollen. Dafür müssen sie ihr Fehlverhalten einsehen und sich damit beschäftigen. Heute erhalten sie eine Verkehrstherapie, früher hätten sie häufig eine Gefängnisstrafe erhalten. Ganz oft sind es einfach Menschen, die sich von ihren Emotionen leiten liessen.
Wie meinen Sie das?
Nun, eigentlich wissen wir alle: Wer trinkt, fährt nicht. Unser Hirn sagt uns das. Wenn wir aber am Freitagabend in der Beiz sind und zufällig einen alten Freund treffen, vergessen wir dies und lassen uns von den Emotionen steuern. Wir nehmen ein Bier zum Anstossen. Auf das erste folgt oft ein zweites und darauf noch ein drittes Bier. Gerät man dann in eine Polizeikontrolle, verliert man den Fahrausweis. Viele, die dann zu mir kommen, sehen ihren Fehler ein und sagen: «Ich weiss eigentlich nicht, wieso ich das getan habe.»
Stossen Sie im Rahmen der Verkehrsschulungen immer sofort auf Verständnis?
(lacht) Nein, ganz und gar nicht. Ein Beispiel: Wenn Sie durch den Gubristtunnel fahren, beobachten Sie, dass viele den Abstand nicht einhalten. Es kann sein, dass diese Fahrer zehn Jahre kein Problem damit haben. Eines Tages bremst im Feierabendverkehr plötzlich ein Auto vor ihnen, dann ein weiteres und noch eines, bis jemand eine Vollbremsung macht und der nachfolgende Wagen wegen des viel zu kleinen Abstands nicht mehr bremsen kann. Dem Fahrer, der bereits zehn Jahre lang falsch gefahren ist, ist dann häufig nicht bewusst, dass er wegen dem zu geringen Abstand eine Verantwortung für den Unfall trägt.
Lassen sich auch Raser und Autoposer von ihren Emotionen leiten?
Ja, das ist so. Viele der Raser und Autoposer kommen aus ländlichen Gebieten. Auf dem Land braucht man ein Auto. Es bedeutet Freiheit, Unabhängigkeit und ist ein Zeichen, dass man erwachsen ist. Vielfach erhält das Auto dadurch eine zu grosse innere Bedeutung. Poser werden eins mit ihrem Auto. Sie geben ihm einen Namen und sprechen mit ihm. Sie identifizieren sich mit dem Auto.
Woher kommt dieses Bedürfnis?
Es handelt sich oft um Schulversager oder Personen mit schlechten Jobs. Sie denken, dass alle auf sie herunterschauen und sie nichts zu sagen haben. Aber das Auto gehorcht ihnen. Geben sie Gas, beschleunigt der Wagen. Bremsen sie, verlangsamt er. Mir erklären im Rahmen der Therapie viele, dass sie sich wie ein Niemand fühlen. Fahren sie aber am Wochenende im teuren BMW vor der Disco vor, Fenster unten und die Bässe aufgedreht, dann schauen alle. Genau in der Situation sind sie dann jemand – dank dem Auto.
Nicht wirklich eine gesunde Einstellung.
Nein, ganz im Gegenteil. Es ist katastrophal, wenn der Selbstwert einer Person an Äusserlichkeiten festgemacht ist. Das gibt es aber oft. Bei den einen ist es halt das Auto, bei anderen vielleicht die Modelleisenbahn. Aber das Prinzip ist dasselbe.
In Aarburg regt sich ein grosser Teil der Bevölkerung über Autoposer auf, die lautstark durch das Städtchen fahren. Ist es das Ziel der Poser, dass sich die Leute aufregen?
Wegen Corona sind die Strassen leer. Das lädt ein, einen Kavalierstart hinzulegen, den Motor aufheulen und den Auspuff knallen zu lassen oder Rennen zu fahren. Den Autoposern geht es darum, gesehen und gehört zu werden. Sie wollen zeigen, was für Helden sie sind. Zudem: Wenn man jung ist, ist es «geil», wenn man alle aufregen kann. Hier ist eigentlich die Gesellschaft mitschuldig. Es gibt zu wenig Freiräume für das Abenteuerbedürfnis der Jungen. Die Jungen wollen sich austoben, können das aber nirgends. Es gibt zu wenig Jugendhäuser, hängen sie am Bahnhof herum, werden sie vertrieben. Mit dem Auto können sie sich auf der Strasse austoben. Wenn alles reglementiert ist, schauen die Leute, wo sie sich ausleben können.
Gerade der Strassenverkehr ist mit dem Rasergesetz stark reglementiert. Spornen die schweren Strafen dazu an, gerade dort das Gesetz zu brechen und sich zu beweisen?
Es gibt tatsächlich eine kleine Minderheit, die Gesetze bewusst nicht beachtet, um zu zeigen, dass ihnen nicht einmal das Gesetz etwas anhaben kann. Im Grossen und Ganzen haben die strengen Gesetze – und vor allem auch deren Überwachung – zur Sicherheit im Strassenverkehr beigetragen. Die harten Strafen wie das Beschlagnahmen des Autos, sehr hohe Geldstrafen oder Gefängnisstrafen mit anschliessender Abschiebung, haben sicher auch dazu beigetragen, dass es weniger Raser gibt.
Was kann Ihrer Meinung nach zusätzlich gegen Raser und Autoposer unternommen werden?
Die Schweiz hat schon viel gemacht, die Zahl der Strassentoten fiel von 1800 im Jahr 1971 auf unter 200. Ein grosses Problem ist meiner Meinung nach das Leasing. Etwa jeder zweite Neuwagen ist geleast, auch von ganz jungen Personen. Muss ein 18-Jähriger einen BMW mit einem Verkaufspreis von über 100’000 Franken leasen können? Braucht es überhaupt Leasingverträge für unter 25-Jährige? Aber solche Gedanken zu äussern ist verpönt in der wirtschaftsliberalen Schweiz (lacht). Ich bin überzeugt: Wer zuerst mit einem schwachen Auto fährt und sich den BMW erst mit 50 leisten kann, wird weniger schnell zum Raser.