Verzögerung wie beim Stadion: Alte Reithalle wird erst 2021 eröffnet

Peter-Jakob Kelting, Sie sind seit achteinhalb Jahren Leiter der Tuchlaube in Aarau. Warum haben Sie es bis jetzt hier ausgehalten?

Kelting: Ich mag überschaubare Strukturen. Aus meiner Erfahrung an grösseren Häusern weiss ich, dass man dort schnell den Kontakt zur Welt verliert. In Aarau erlebe ich hingegen eine Nähe zur Stadt, zu den Zuschauern und zu den Künstlern.
 

Was hat das für Vorteile?

Man wird, und ich meine das ohne Pathos, demütig gegenüber dem, was man mit seiner Kunst behaupten will. Man ist gehalten, auf Augenhöhe zu gehen mit seinem Publikum, was ich sehr mag. Wir haben seit vier Jahren eine Auslastung um die achtzig Prozent, 2017 hatten wir mehr Zuschauer als Aarau Einwohner hat – eine schöne Bestätigung für uns.

Sie sind sechzig Jahre alt. Sind Sie zuversichtlich, dass Sie die Eröffnung der alten Reithalle vor Ihrer Pensionierung noch erleben werden?

Auf jeden Fall. Der im Juni geplante Spatenstich hat sich zwar verzögert, aber es ist absehbar, dass wir im Frühjahr oder Herbst 2021 werden eröffnen können.

Gab es nie einen Moment, wo Sie dachten: Diese Eröffnung mache ich als Theaterleiter nicht mehr mit?

Ich habe immer an das Projekt geglaubt, selbst in den Jahren 2013 und 2014, als es auf politischer Ebene einen Entscheidungsstau gab. Die Sommerbespielungen haben Jahr für Jahr mehr Menschen begeistert. Als das argovia philharmonic als Partner hinzustiess, hat das Projekt noch einmal mehr Akzeptanz bekommen.

Diesen Sommer haben sie zum zweiten Mal in der Reithalle mit dem Aargauer Artisten Roman Müller das Festival Cirqu’ durchgeführt. Derweil fährt das Theater Spektakel Zürich mit zeitgenössischem Zirkus eher zurück. Eine Chance für Sie, Ihre Kompetenzen da auszubauen?

Mit dem Festival Cirqu’ haben wir 2017 wie 2019 in nur zehn Tagen jeweils 5000 Zuschauer erreicht. Künftig werden wir im Saisonprogramm des neuen Theaterhauses in der Alten Reithalle zusätzlich noch drei bis fünf Gastspiele ins Saisonprogramm aufnehmen. Zirkus als interdisziplinäre Kunstform hat einen Imagewandel erfahren. In der neuen Kulturbotschaft des Bundes ist Zirkus neuerdings als förderungswürdig aufgeführt. Die Reithalle wird nach dem Umbau technisch so eingerichtet sein, dass zeitgenössischer Zirkus hier problemlos gezeigt werden kann.

Anfang Jahr wurde der Trägerverein gegründet, in dem ab der Saison 2020/21 die Tuchlaube, die Theatergemeinde und der Fabrikpalast fusioniert werden. Was bedeutet das für das künftige Profil des Theaters?

Die Leistungsvereinbarungen dieser Institutionen werden mit derjenigen der Tuchlaube zusammen geführt. Wir müssen das Programm in den beiden Spielorten Tuchlaube und Alte Reithalle also nicht neu erfinden, sondern können stattdessen fokussieren und mehr Wert auf Qualität legen. Neu verfügen wir ab 2021 über ein Gesamtbudget von jährlich 1.7 Millionen Franken.

Die Theatergemeinde zeigte bisher konventionelles Schauspiel. Das fehlt im Programm der aktuellen Tuchlaube-Saison aber komplett.

Ja, wir standen bisher für ein avanciertes Programm mit zeitgenössischer Dramatik. Nächstes Jahr werden wir unser Profil aber anpassen müssen. Dann werden wir den Leistungsauftrag der Theatergemeinde übernehmen. Den Fabrikpalast mit seinem innovativen Figuren- und Objekttheater haben wir schon ins Saisonprogramm integriert. Anfangs 2020 organisieren wir zum 20-jährigen Bestehen des Fabrikpalasts ein Figurentheaterfestival. Auch um zu zeigen: Das hier soll eine partnerschaftliche Übernahme werden.

Damit wären Sie sehr breit aufgestellt. Läuft man da nicht Gefahr, an Profil zu verlieren?

Im Gegenteil. Vielfalt ist für uns der Schlüssel zu unseren Zuschauern. Mit Zirkusproduktionen und mit der Integration der Aarauer B’Bühne von Jonas Egloff ins Programm werden wir in der Schweizer Theaterlandschaft einzigartig dastehen. Dass man wie bei der B’Bühne mit Laien nicht einfach nur Stücke einstudiert, sondern sagt, Laien beglaubigen das, was auf der Bühne verhandelt wird, durch ihre Identität, ist in der Schweiz immer noch nicht verbreitet. In Deutschland gibt es diese Bürgerbühnen mittlerweile an vielen Theatern. Egloff wird neu in unserem Team mitarbeiten. Wir werden somit erstmals zu einem Produktionshaus für eine Theaterform, die sonst nirgendwo gezeigt wird.

Sie haben dem neuen Saisonprogramm den schönen Hölderlin-Satz: «Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde.» vorangestellt. Was müssen Sie an Aarau immer wieder neu lernen?

Theater hat hier nicht denselben Stellenwert wie im Deutschland der 1970er-Jahre, wo ich sozialisiert wurde. Damals war man überzeugt, dass die Debatten, die zum gesellschaftspolitischen Selbstverständnis gehören, auch im Theater stattfinden. Was ich mir von den Aarauern manchmal wünschen würde, wäre eine grössere Grundneugierde. Dass man einfach mal in ein Stück reingeht, ohne zu wissen, worauf man sich einlässt. Ist das Publikum aber mal da, bin ich immer wieder überrascht, mit welcher Kompetenz und Empathie es die Stücke schaut.

Es gibt momentan viele Intendantenwechsel und Profiländerungen an den Schweizer Häusern. Erobert sich das Theater gerade seinen gesellschaftlichen Stellenwert zurück?

Ich bin überzeugt, dass Theater wieder eine andere Bedeutung bekommen wird. Das ist eine Beobachtung von mir – und eine Hoffnung! In einer Zeit, in der die Gesellschaft immer mehr in verschiedene Subsysteme zu zerfallen droht, gibt es kaum noch öffentliche Orte, wo man sich begegnet und Dinge verhandelt, die einen betreffen und berühren.

Emotionen sucht man heute aber eher im Musical oder im Zirkus, nicht im Theater.

Ja, leider ist Emotionalität im Theater out. Ich bin da altmodisch. Gefühle sind wichtig. Wir sollten uns nicht über sie hinwegsetzen. Sie spielen in unserer Gesellschaft eine enorm wichtige Rolle. 30 bis 40 Prozent unserer Zuschauer sind Kinder und Jugendliche. 2018 hatten wir hier 233 Schulklassen. Wir merken an den Reaktionen dieses jungen Publikums, wie stark Theater berühren kann.

 
Ihr Saisonprogramm lautet «Aarau. Die Welt.» Ein Hauch von Grössenwahn?

Dahinter steckt die einfache Beobachtung, dass wir im Alltag längst eine Form von Internationalität leben, die wir gar nicht mehr infrage stellen. Der identitätspolitische Diskurs, der gerade gefahren wird, halte ich für vorgestrig. Wenn ich am Bahnhof Aarau an diesem schönen Klavier stehen bleibe, und einem Jungen aus Eritrea zuhöre, wie er Beatles spielt, dann fliesst das in meinen Erfahrungshorizont mit ein. Das ist die Spannung, die wir ausschreiten, wenn wir «Aarau und die Welt» sagen.

Sie haben in dieser Saison viele internationale Produktionen eingeladen. Es geht um Drogenhandel, Kriegserfahrungen, autoritäre Regimes – schwere Kost! Werden sich die Aargauer sich da drin wiederfinden!

Schauen wir mal! (Lacht). Wir fordern uns da jedes Jahr neu heraus. Das dokumentarische Stück «Palmasola» des Basler Klara Theaters über die wahre Geschichte eines Schweizers, der mit seinen Vorstellungen vom Rechtstaat fünf Jahre in einer bolivianischen Gefängnisstadt in Untersuchungshaft sitzt, die von den Inhaftierten selbst verwaltet wird, wirft auch einen Blick auf uns selbst.