
Vom Realschüler zum Master of Law – der erstaunliche Werdegang des Murgenthalers Lorentin Ceni
Master of Law: So darf sich der 27-jährige Rothrister Lorentin Ceni seit diesem Sommer offiziell nennen. Er schloss an der Universität Bern sein Masterstudium der Rechtswissenschaften erfolgreich ab. Vor 15 Jahren, als Ceni noch in Murgenthal lebte und gerade die Primarschule Glashütten abschloss, deutete nichts auf eine akademische Laufbahn hin. «Ich war immer ein durchschnittlicher Schüler und rechnete fest damit, in die Sek zu kommen», so Ceni.
Als er und sein Vater zum Übertrittsgespräch in die Schule Glashütten gingen, eröffnete der Klassenlehrer den beiden, dass Lorentin nicht in die Sek, sondern in die Real kommen wird. Notenmässig hätte es gereicht. «Ich hatte in der vierten Klasse einen kleinen Dämpfer, gab dann in der fünften aber richtig Gas, um es eben doch in die Sek zu schaffen.»
Eine nachvollziehbare Begründung für den Entscheid gab es laut Ceni an dem Gespräch nicht. Einspruch oder Rekurs dagegen legte die Familie nicht ein. «Heute würde ich das anders machen. Aber als Einwanderer ist es nicht immer einfach, sich in einem anderen System zurechtzufinden und alle Möglichkeiten zu kennen.»
Ursprünglich stammt die Familie Ceni aus dem Kosovo, genauer gesagt aus einem kleinen Dorf in der Grossgemeinde Gjakova. Lorentin Cenis Vater arbeitete jahrelang als Saisonier in der Schweiz, blieb mal drei, mal sechs Monate hier, bevor er zu seiner Familie zurückkehrte. 1996 erhielt er eine unbefristete Stelle in der Schweiz, holte seine Frau, den damals 1-jährigen Lorentin sowie seine Tochter und die beiden anderen Söhne in die Schweiz – zwei Jahre vor dem Kosovokrieg. «Es war damals schon klar, dass die Unruhen im Land irgendwann einmal zum Krieg führen würden. Mein Vater wollte seine Familie in Sicherheit bringen», so Lorentin Ceni.
Zuerst lebte die Familie einige Jahre im Kanton Luzern, wo Lorentin den Kindergarten besuchte. Bevor er in die Primarschule kam, zog seine Familie nach Murgenthal, da seine Schwester im Outlet Park eine Lehrstelle gefunden hatte.
Grosse Enttäuschung nach Übertrittsgespräch
«Ich weiss noch, wie wir zu Fuss an das Übertrittsgespräch gingen. Und wie enttäuscht mein Vater und ich auf dem Nachhauseweg waren.» Für Lorentin Ceni brach an dem Tag eine Welt zusammen. «Ich sah mich wirklich als Sek-Schüler. Die Einstufung in die Real kam sehr überraschend», erklärt Lorentin, dem dabei noch heute die Enttäuschung anzusehen ist. Den kaum begründeten Entscheid kann er auch 15 Jahre später nicht nachvollziehen. «Meine Herkunft hat sicher eine Rolle gespielt. Wohl auch, dass mein Bruder genau in dem Sommer von der Sek wieder in die Real musste, nachdem er zuvor von der Real in die Sek wechseln konnte.» Von Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit will er aber nichts wissen.
Auch am Schweizer Schulsystem will er nicht rütteln. «Ich bin begeistert von unserem Schulsystem. Nur: Fehlentscheide wie in meinem Fall – ich kenne noch drei, vier andere – sollten vermindert oder im Idealfall sogar gänzlich verhindert werden.» Im Grossen und Ganzen sei das Schweizer Bildungssystem hervorragend und diene der ganzen Welt oft als Vorbild. «Nicht zuletzt deswegen, weil es – wie mein Fall zeigt – ermöglicht, solche Fehlentscheide mit viel Willen zu korrigieren.»
Angesprochen auf Verbesserungsvorschläge antwortet Ceni entschlossen: «Vielleicht müsste die Lehrerschaft in ihrer Ausbildung noch stärker sensibilisiert werden, damit die Schüler möglichst objektiv beurteilt werden.» Gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund soll besser hingeschaut werden. Viele hätten es nicht einfach und erhalten daheim kaum Unterstützung. «Wir lebten in bescheidenen Verhältnissen mit wenig Geld. Mein Vater war immer am Arbeiten, meine Mutter schaute zu Hause auf uns Kinder.» Beide hatten die Schule im Kosovo besucht. Cenis Mutter acht Jahre die Grundschule, sein Vater absolvierte zudem eine Ausbildung. «Einzig in Mathematik konnte mir mein Vater helfen, die ist überall gleich.» Dennoch genoss er bei der Bildung die volle Unterstützung seiner Eltern. Sein Vater kaufte den Kindern viele Bücher. «Dafür hatten wir weniger Spielzeug.»
Kindheitstraum drohte zu platzen
Lorentin Cenis Traumberuf als Kind war Zahnarzt. «Im Fernsehen schaute ich Arztsendungen oder Sachen wie ‹Richter Alexander Hold›. Ich wollte wohl so sein wie die Personen, die ich im Fernseher sah.» Rückblickend würden ihm aber viele, die ihn als Kind schon kannten, sagen, dass bei seinem Gerechtigkeitssinn ein Jus-Studium nur logisch war.
Mit dem Übertritt in die Real drohte sein Traum aber zu platzen. «Im Nachhinein war der Fehlentscheid aber mehr ein Glücksfall für mich. Er hat mich erst richtig motiviert.» Notenmässig setzte sich Lorentin Ceni in der Realschule deutlich von seinen Mitschülern ab und konnte bereits nach einem Jahr in die Sekundarschule wechseln. Dass er eigentlich nicht in die Realschule gehörte, erkannte auch sein damaliger Lehrer Urs Indermühle, der ihn stets motiviert und angetrieben hat. Auch in der Sekundarschule gehörte er schnell zu den Besten. «Ich hatte aber Respekt vor dem Wechsel in die Bezirksschule und wollte meine Leistung erst in einem zweiten Jahr bestätigen.» Als auch da die guten Leistungen anhielten, konnte er nach dem zweiten Sek-Jahr in das zweite Bez-Jahr wechseln.
In der Oberstufe begann sich Ceni immer mehr für die Rechtswissenschaften zu interessieren. Nach der Bezirksschule wechselte er an die Kanti Zofingen und kam dort durch das Fach «Wirtschaft und Recht» zum ersten Mal richtig in Kontakt mit Rechtswissenschaften. «Dort hat es mir den Ärmel richtig reingezogen. Ich war fasziniert davon.» Ihm wurde klar, dass er Jura studieren möchte.
Während des Bachelorstudiums an der Universität Bern konnte Lorentin Ceni bereits Praktika absolvieren und so erste Berufserfahrung sammeln. Gleichzeitig arbeitete er über zehn Jahre samstags in der Warenausgabe des Möbelhauses Hubacher in Rothrist. «In der 8. Klasse habe ich damit angefangen und es bis zum Masterabschluss durchgezogen. So konnte ich mir zuerst das Sackgeld aufbessern, danach teilweise das Studium finanzieren.» Ausserdem war der körperlich anspruchsvolle Job eine gute Abwechslung zum täglichen stundenlangen Lernen.
Sein Studium hat er generalistisch ausgelegt. «Weder im Bachelor noch im Master habe ich mich speziell vertieft. Ich möchte einfach möglichst viel sehen, bevor ich mich festlege.» Nach Praktika in verschiedenen Anwaltskanzleien absolviert er gerade ein einjähriges Rechtspraktikum auf der Steuerverwaltung des Kantons Aargau. «Ich wollte unbedingt die Verwaltung kennenlernen und habe mich zuerst bei der Steuerverwaltung beworben.» Nach diesem einjährigen Praktikum soll möglichst noch ein Einsatz bei der Staatsanwaltschaft oder an einem Gericht folgen. Dann hat er alle drei Bereiche kennengelernt. Anschliessend will er sich festlegen, in welche Richtung er seinen Berufsweg einschlagen möchte. Was bereits klar ist: Ein Doktortitel wird wohl nicht folgen. «Ich hätte die Möglichkeit dazu sicher gehabt. Allerdings bin ich viel mehr der Praktiker. Das merke ich jetzt während dem Arbeiten.»
Ceni will motivieren und Möglichkeiten aufzeigen
Heute ist es Lorentin Ceni wichtig, mit seiner Geschichte zu zeigen, dass auch mit einem Start in der Realschule noch alles möglich ist. «Ich habe gelernt, wie wichtig Wille, Leistung und Fleiss sind. Damit kann man fast alles erreichen. Der Wille kann Berge versetzen.» Zumindest für seine Neffen ist er bereits jetzt ein Vorbild. «Meinem Neffen Aron konnte ich vermitteln, dass er Gas geben soll und sich etwas mehr auf die Schule konzentriert, damit er es in die Sek schafft.» Er sei sich bewusst, dass er auch Glück gehabt habe – nicht jede ähnlich gelagerte Geschichte nehme ein Happy End. Seinen Geschwistern etwa sei das Eingewöhnen in der Schweiz schwerer gefallen als ihm, da sie im Kosovo bereits den Kindergarten und einige Schuljahre absolviert hatten. «Ich kann mir vorstellen, dass nicht alle durch einen solchen Entscheid motiviert werden wie ich, sondern sich vielleicht eher entmutigen lassen. Ihnen möchte ich zeigen, dass so ein Entscheid nicht die ganze Zukunft beeinflussen muss.»