Waren «einige tausend» oder «über 50’000» in Bern? Brisanter Deutungsstreit um die Coronademonstration

Zumindest eines lässt sich mit Sicherheit festhalten: Tausende Menschen demonstrierten am Samstag in Bern gegen die Coronamassnahmen – mit behördlichem Segen. Die Stadt hatte ein Gesuch der Komitees Aktionsbündnis Urkantone und Freie Linke Schweiz bewilligt. Angeführt von Trychlerinnen und Trychlern zog die Menge vom Münsterplatz auf dem Bundesplatz, wo schliesslich ihre Kundgebung stattfand.

Ihr Protest richtete sich gegen das Covid-Zertifikat, das zu einer Spaltung der Gesellschaft führe. Die Demonstrierenden warben für ein Nein zum Covid-19-Gesetz. Anders als bei früheren Kundgebungen blieb es weitgehend friedlich.

Bloss: Was heisst «Tausende» oder «einige tausend»? Seit Samstagabend kursieren ganz unterschiedliche Angaben darüber, wie viele Menschen teilgenommen haben. Bei diesen Zahlenspielen geht es vor allem um eines: um die Deutungshoheit in einem heissen Abstimmungskampf. Dass es bei aufgeladenen Themen nach Demonstrationen zu einem Streit um die Teilnehmerzahl kommt, ist ein altbekanntes Phänomen.

Diesmal jedoch gehen die Zahlen für Schweizer Verhältnisse weit auseinander. Klar ist: Der Bundesplatz, der Bärenplatz und die umliegenden Gassen waren am Samstag randvoll mit Menschen, wie Bilder zeigen und Beobachter bestätigen. Klar ist auch: Am Ende ist die Frage nicht nur eine politische, sondern auch eine technische – grosse Menschenmengen präzise zu schätzen, ist schwer.

Die Sicherheitsbehörden ermitteln solche Zahlen indes vornehmlich aus funktionalen Gründen, nicht um ihrer selbst willen. Daraus leiten sie ihre Einsatzstrategie ab. In Bern verzichtet die zuständige Kantonspolizei jedoch tunlichst darauf, eigene Schätzungen zu kommunizieren. Man äussere sich grundsätzlich nicht dazu, erklärte eine Sprecherin am Sonntag und verwies auf die «gängige Praxis».

Vermeintlicher Beleg für die eigene Mobilisierungskraft

Die Organisatoren selbst sprachen vor Ort offenbar zuerst von 15’000 bis 20’000 Teilnehmenden; diese Angaben notierten Reporter der «Berner Zeitung». Am Sonntag dann hielten das Aktionsbündnis der Urkantone, die Freunde der Verfassung und das Netzwerk Impfentscheid in einer Medienmitteilung fest: «Die Veranstalter schätzen, dass deutlich über 50’000 Personen an der friedlichen Kundgebung teilgenommen haben.»

Das konservative Onlineportal «Nebelspalter» schliesslich verwies auf Beteiligte, welche die Teilnehmerzahl sogar «auf 50’000 bis 100’000» schätzten. Zahlen in dieser Grössenordnung verbreiteten Massnahmenkritiker übers Wochenende auch fleissig über Telegramkanäle – natürlich sollten sie als vermeintlicher Beleg dienen, um die eigene Mobilisierungskraft zu dokumentieren.

Manche Befürworter des Covid-Gesetzes gingen in den sozialen Medien lediglich von einer hohen vierstelligen Teilnehmerzahl aus. In Postings stellten User eigene Zahlenspiele an. Einige argumentierten mit Bildbetrachtungen, andere zogen Vergleiche zu früheren Veranstaltungen. Und während das Onlineportal «20 Minuten» von «weit über 5000 Personen» schrieb, schätzte Telebärn die Teilnehmerzahl gestützt auf Beobachtungen vor Ort auf «über 10’000 Leute».

Sogar Linke gehen von höheren Zahlen aus

Bemerkenswert ist, dass selbst politische Stimmen, die den Massnahmengegnern alles andere als wohlgesinnt sind, von höheren Zahlen ausgehen. Einige sehen die Berner Demonstration als Weckruf. «Machen wir uns nichts vor», schrieb Juso-Vizepräsident Nicola Siegrist in einem Tweet. Er stellte fest: In Bern seien über 20’000 Demonstrierende vor Ort gewesen und die Bewegung der Massnahmengegner habe weiter Zulauf. «Wir haben bis jetzt keine gute linke Antwort», konstatierte der Zürcher SP-Kantonsrat weiter.

Tatsächlich wird der Streit um die «richtige» Grösse der Berner Kundgebung auch deshalb so erbittert geführt, weil am Samstag nebst pointiert rechten auch pointiert linke Gruppierungen unter den Demonstrierenden auszumachen waren. Bilder zeigen sogar Flaggen der Antifaschistischen Aktion – ebenso rote Sterne der Freien Linken Schweiz.

Zwar steht diese Bewegung bei den etablierten linken Parteien unter Verdacht, nur eine linke Fassade vorzugaukeln. Aber seit einigen Wochen mobilisieren auch prominente Köpfe von links gegen die Vorlage und zwar aus grundrechtlichen Überlegungen. Den Anfang machte die Schriftstellerin Sibylle Berg. Mit dem Komitee der Geimpften kämpft sie gegen das Coronazertifikat im Inland. In der «Schweiz am Wochenende» warnte sie: «Ich halte ein Zertifikat, das Menschen Zugang oder Nichtzugang zur Teilhabe am täglichen gesellschaftlichen Leben gestattet oder verweigert, für gefährlich.»

Das Covid-19-Gesetz kommt am 28. November an die Urne. Laut der soeben veröffentlichten GFS-Umfrage im Auftrag der SRG kommt die Vorlage auf 61 Prozent Ja-Stimmen. Die Befürworter sind also im Vorteil, ihr Polster aber ist nicht allzu dick.