Warum es mir bei der Dorfeinfahrt Brittnau die Kehle zuschnürte

Die E-Mail aus Brittnau erreicht mich am 26. September letzten Jahres abends um halb sieben. Ob ich schon von der «Chetti» gehört habe, fragt Esther Steiner. Die «Chetti» sei die Kulturkommission im Dorf, und organisiere jedes zweite Jahr die Bundesfeier. Man frage an, ob ich an der nächsten Bundesfeier die 1.-August-Rede halten würde. Im Post Skriptum schiebt sie nach, dass fünf von sieben Mitgliedern der Kommission das ZT abonniert hätten. Ein guter Hinweis, denke ich.

Trotzdem bleibt die E-Mail ein paar Tage liegen. Eine 1.-August-Rede halten? Ist das nicht mehr etwas für Politiker? Ausserdem: Bin ich am 1. August 2018 überhaupt im Land? Aus Tage werden Wochen. Am 22. Oktober hakt Esther Steiner nach. Sie wolle nochmals nachfragen, wie es mit ein paar Gedanken zum 1. August stehe. Ich zögere noch immer. Als die Ferienplanung nicht mit einem Besuch in Brittnau kollidiert, sage ich zu. «Rede Brittnau» steht nun fortan am 1. August 2018 in meinem Kalender.

Die nächsten paar Monate verdränge ich das Thema. Brittnau macht Schlagzeilen, nicht nur erfreuliche. Werde ich sie in meiner Rede thematisieren? Eher nicht – das könnte als Besserwisserei ausgelegt werden. Der Frühling geht ins Land, der Sommer bricht an. Die Rede in Brittnau – sie ist weit, weit weg. Irgendwann im Juni erinnert mich meine Kollegin Lilly-Anne Brugger schlagartig an den bevorstehenden Termin. Sie schlägt vor, kurz vor dem Nationalfeiertag ein Interview mit einem Experten für Reden zu publizieren – landauf, landab würden an diesem Tag unzählige Reden gehalten; ein Thema also, dass viele interessiere; dem einen oder anderen Redenschreiber könne das Interview vielleicht noch auf die Sprünge helfen. Sofort bitte ich sie, das Gespräch doch unbedingt zu machen – «eine super Idee», sage ich. Dass mich langsam die Panik im Hinblick auf den 1. August beschleicht, verschweige ich geflissentlich.

Das Interview mit dem Experten Thomas Skipwith verschlinge ich Tage bevor es erscheint. Natürlich habe ich noch keinen blassen Schimmer, was ich am 1. August ins Mikrofon sagen soll. Dafür kommt mir jetzt meine älteste Schwester in den Sinn, die mich schon öfters ermahnte, meine Sätze nicht mit lauter «Äähhhs» zu unterbrechen, gerade vor Publikum komme das ganz schlecht an. Langsam beginne ich meine Zusage zu bereuen: Eine 1.-August-Rede– so ein Quatsch! Habe ich mich nicht immer amüsiert über die patriotischen Floskeln, die jeweils zwischen ein paar Bieren und dem Zischen von Zuckerstöcken zum Besten gegeben werden?

Abends, in der Badi, habe ich mein Notizbuch dabei. Irgendwann wird sich nach einer Abkühlung im See ja ein Gedanke fassen lassen. Wie Blei klebt der Füller an der Hand, die Seiten bleiben blank. Immerhin habe ich eine Schuldige, die ich vorschieben kann: Bei dieser Bruthitze fällt beim besten Willen niemandem etwas ein!.

Die Schuld abzuschieben hilft ein paar Tage, dann ist auch damit Schluss. Ich lese das Interview mit dem Rednercoach zum zweiten Mal. Er rät, das aktuelle Geschehen zu studieren und dieses einbeziehen. Aha. «Ich würde auch etwas von mir persönlich einfliessen lassen.» Ok. Und dann verweist er auf das höchste Gebot der Rhetorik: «Du darfst nicht langweilen.» Neben mir liegen Notizbuch und Füller. Unbenutzt in den letzten Tagen. Was da auch noch steht: «Mach so früh wie möglich ein kleines Brainstorming und ergänze es im Laufe der Zeit. So starrst Du 31. Juli nicht auf ein weisses Blatt.» Ich schaue auf die Uhr: Wir schreiben den 27. Juli. Immer noch nichts auf dem Papier.

Warum habe ich Esther Steiner überhaupt je zugesagt? Es hätte ein entspannter 1. August werden könne, morgens in die Badi, dann den Grill anwerfen. «Aber nein, natürlich hat es Deinem Ego geschmeichelt, angefragt zu werden – jetzt hast Du den Salat!», denke ich.

Also gut: Was ist mir wirklich wichtig – als Staatsbürger, persönlich? Nervig – und gefährlich – finde ich undifferenziertes Wut-Gebrüll in der politischen und publizistischen Arena. Meine Sensoren stellen da zunehmende Aktivität fest; der Hass, der sich manchmal offen, manchmal subtil in den sozialen Medien und anderswo ausbreitet, zerfrisst das, was die Schweiz ausmacht. Gefragt ist Gelassenheit, Gelassenheit als Handwerk der politischen Freiheit quasi. Ein Handwerk, das man beüben kann. Um diesen Gedanken herum baue ich meine Rede. Blatt um Blatt füllt sich. Zwei Tage noch bis zu Rede.

«Hast Du Deine Rede geschrieben?», fragt mich abends meine Frau. «Ja, fast», antworte ich. «Und geübt?», hakt sie nach. Habe ich natürlich nicht.

Anderntags drucke ich das Geschriebene in 24-Punkt-Schrift aus. Ich lege die Blätter beim Autofahren auf den Beifahrersitz, schiele ab und zu drauf (nicht zur Nachahmung empfohlen!) und schmettere die Rede fetzenweise und so laut es geht gegen die Windschutzscheibe. Geht ja!

Erster August. Jetzt kann ich definitiv nicht mehr zurück. Meine Frau begleitet mich, setzt sich ans Steuer – und ich übe auf den Beifahrersitz die Rede. «Ganz ordentlich», meint sie. «Aber darf ich was sagen?» – «Klar.» – «Schrei nicht zu laut.» Als ich den Dorfeingang in Brittnau passiere, entdecke ich ein Schild mit meinem Namen drauf: «Festredner Philippe Pfister». Alles, was ich bis dahin gegen das Lampenfieber unternommen habe, ist auf einen Schlag verdunstet. «Was, wenn die Stimme versagt? Was, wenn ich ausgebuht werde?»

Erst als mich Esther Steiner und andere herzlich begrüssen, löst sich die Schnürung um die Kehle. Im Baumgarten ist es angenehm kühl, alles ist perfekt organisiert – wie jedes Jahr. Auf Brittnau ist Verlass. Nach der Rede hoffe ich, dass einige meine Gedankenanstösse schätzen, bevor sie zur Grillwurst übergehen. Alle anderen bitte ich, eine Weisheit des Rednercoach Thomas Skipwith zu beherzigen: «Eine Rede lebt davon, dass man Fehler macht.»

Und zum Schluss noch dies: Wer jemals eine 1. August-Rede gehalten hat, weiss: Bedanken muss sich der Redner bei den Zuhörern, nicht umgekehrt. Sie zwingt nämlich den Redner, sich wieder einmal mit den Fundamenten unseres Zusammenlebens zu befassen. So gesehen sollten 1.-August-Reden sogar Pflicht sein: Jede Staatsbürgerin, jeder Staatsbürger sollte so eine Rede dann und wann halten. Dann hätte wir nämlich so etwas wie die perfekte Demokratie.

In diesem Sinne also: Herzlichen Dank, liebe Brittnauerinnen und Brittnauer!

In unserer Sommerserie «Mein erstes Mal» wagen sich Redaktorinnen und Redaktoren an Dinge heran, die sie schon lange einmal ausprobieren wollten. 

 

Einer von tausenden im Land: Pfister als 1.-August-Redner.
Einer von tausenden im Land: Pfister als 1.-August-Redner.