Wegweisendes Urteil für die vierte Welle: Berner Demo-Verbot war bundesrechtswidrig – Urner Beschwerde abgeblitzt

Worum geht es?

Der Bundesrat hat während der Pandemie Demonstrationen immer explizit erlaubt. Die Kantone Bern und Uri erliessen aber strengere Massnahmen und erlaubten nur Kundgebungen mit wenigen Teilnehmern. In Bern waren es höchstens 15, teilweise sogar nur 5, in Uri lag die Beschränkung bei 300 Personen.

Linke Organisationen aus Bern und das bürgerliche Aktionsbündnis Urkantone legten Beschwerde gegen die jeweiligen Verordnungen ein.

Da die Bundesrichter nicht wie üblich im internen schriftlichen Austausch einen Konsens gefunden haben, tragen sie ihre Meinungsdifferenzen jetzt vor Publikum aus.

40 Zuschauer verfolgen die Sitzung am Freitag in Lausanne mit Masken. Die Bundesrichter sitzen hinter Plexiglaswänden.

Warum ist das wichtig?

Während der vierten Welle werden sich die gleichen Fragen wieder stellen. Die Zeit reicht aber jeweils nicht, Beschwerden rechtzeitig zu behandeln. Deshalb ist die rückblickende Beurteilung wichtig, um Klarheit für die Zukunft zu schaffen.

Es geht um den Stellenwert der Versammlungsfreiheit und das Machtverhältnis zwischen Bund und Kantonen.

Wie positionieren sich die Bundesrichter?

Bundesrichter Hans Georg Seiler.

Bundesrichter Hans Georg Seiler.

Keystone

Hans Georg Seiler, SVP, präsidiert die zweite öffentlich-rechtliche Abteilung. Er sieht eine grundsätzliche Frage:

«Wie viele Erkrankte und Tote nehmen wir in Kauf, um Veranstaltungen durchzuführen?»

Die Gefährlichkeit einer Veranstaltung hänge nicht von ihrem Zweck ab. Er ruft in Erinnerung, dass damals nur Treffen von 15 Personen erlaubt waren. Wenn sich also 16 Personen privat trafen, hätten sie gebüsst werden können. Niemand würde es aber verstehen, wenn gleichzeitig Demonstrationen mit Hunderten Personen erlaubt würden, sagt er.

Es spiele keine Rolle, ob die Versammlungsfreiheit für einen Fasnachtsumzug oder eine Demonstration genutzt werde. Eine unterschiedliche Behandlung rechtfertige sich nicht damit, dass die eine Veranstaltung den Behörden wertvoller erscheine als die andere.

Seiler nennt drei Argumente, weshalb Demonstrationen gleich behandelt werden sollten wie andere Veranstaltungen.

1. Politische Kundgebungen seien nicht das Wichtigste für die Demokratie. Auch politische Parteien seien wichtig. Diese seien mit ihren Veranstaltungen aber ebenso eingeschränkt gewesen.

2. Politische Anliegen könnten auch über Medien verbreitet werden oder mit kleinen Kundgebungen von 15 Personen.

3. Jeder Diskursbeitrag sei gleich viel wert, egal, ob er von einer Person oder von Hunderten vertreten werde. Es sei zwar ein legitimes Interesse von Veranstaltern einer Kundgebung, möglichst viele Leute zu mobilisieren. Aber für den demokratischen Wert der Veranstaltung spiele das keine Rolle.

Seiler zieht folgendes Fazit:

«Es geht um eine Ausnahmesituation, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Viele Grundrechte wurden eingeschränkt. Es war zumutbar, politische Kundgebungen wie andere Veranstaltungen vorübergehend einzuschränken.»
Bundesrichterin Florence Aubry Girardin.

Bundesrichterin Florence Aubry Girardin.

Keystone

Bundesrichterin Florence Aubry Girardin, Grüne, ist anderer Meinung. Das Prinzip der Verhältnismässigkeit verlange, dass immer die mildest mögliche Massnahme angewendet werde. Es sei nicht richtig, alle Veranstaltungen gleichzubehandeln. Denn die politische Meinungsäusserungsfreiheit habe für die Demokratie einen besonderen Wert. Deshalb habe der Bund politische Kundgebungen vom Veranstaltungsverbot ausgenommen. Die Berner Regelung sei unverhältnismässig. Die Einschränkung in Uri sei aber im Ermessen der Kantonsregierung gelegen.

Bundesrichterin Julia Hänni.

Bundesrichterin Julia Hänni.

Keystone

Juli Hänni, CVP, widerspricht Seiler ebenfalls. Für eine politische Kundgebung sei die Appellwirkung wichtig. Es mache eben doch einen Unterschied, ob 15 Leute oder mehr demonstrieren würden. Die Einschränkung auf 15 Personen sei ein faktisches Verbot. Die Berner Regelung hält sie deshalb für widerrechtlich. Die Urner Regelung mit höchstens 300 Teilnehmern sei aber nicht zu beanstanden.

Bundesrichter Michael Beusch.

Bundesrichter Michael Beusch.

Keystone

Michael Beusch, SP, schliesst sich der Meinung der beiden Frauen an. Es sei in Ordnung, die Anzahl Teilnehmer einer Demonstration einzuschränken. Aber es sei nicht in Ordnung, sie gleich stark einzuschränken wie alle anderen Veranstaltungen.

Bundesrichter Yves Donzallaz.

Bundesrichter Yves Donzallaz.

Keystone

Yves Donzallaz, SVP, kritisiert die Berner Regelung ebenfalls. Demonstrationen in der Bundesstadt seien für die Schweiz von besonderer symbolischer Bedeutung. Es gehe auch darum, der Bevölkerung zu erlauben, ihren Frust zu äussern – gerade in einer Aufnahmesituation. Er ist der Bundesrichter, der in seiner eigenen Partei in Ungnade gefallen ist.

Abteilungspräsident Seiler steht also auf verlorenem Posten. Trotzdem eröffnet er gut gelaunt die zweite Diskussionsrunde. Das Argumentieren macht ihm sichtlich Freude. Er macht einen brisanten Vergleich. Er spricht über zwei fiktive Veranstaltungen. Veranstaltung 1:

«300 Fussballfans treffen sich, um den Sieg der Nationalmannschaft zu feiern. Das wäre verboten, weil es eine private Veranstaltung wäre.»

Veranstaltung 2:

«300 Talibanfans treffen sich, um den Sieg in Afghanistan zu feiern. Das wäre also grundsätzlich erlaubt, weil es eine politische Kundgebung wäre.»

Er fragt seine Kolleginnen und Kollegen, bei welcher Teilnehmerzahl sie denn die Grenze ziehen würden. Es gehe um eine Grundsatzfrage, die es für künftige Demonstrationen zu klären gelte.

Die Bundesrichterinnen und Bundesrichter antworten, es komme auf die Umstände an. Wichtig sei, dass für Demonstrationen mehr Teilnehmer erlaubt würden als für alle anderen Veranstaltungen.

Wie lautet das Urteil?

Das Bundesgericht lehnt die Urner Beschwerde ab.

Es heisst aber die Berner Beschwerde gut. Die Einschränkung aller Demonstrationen auf 15 Personen war bundesrechtswidrig. Der Entscheid fällt mit 4 zu 1 Stimmen.