
Wegweisendes Urteil für die vierte Welle: War es richtig, Demos zu verbieten?
Der Bundesrat ist stolz darauf, dass er Demonstrationen während der Pandemie erlaubt hat. So weist das Innendepartement von Gesundheitsminister Alain Berset in einer Tabelle darauf hin, dass in Paris und Berlin Demonstrationsverbote in Kraft waren – nicht aber in Bern.
Doch das stimmt nicht wirklich. Der Bund hat zwar Demonstrationen explizit erlaubt, aber der Kanton Bern hat während der zweiten und dritten Welle strengere Massnahmen beschlossen und die Teilnehmerzahl auf 15 und vorübergehend sogar auf 5 Personen beschränkt. Solche Kleinstanlässe können nicht als Demonstrationen bezeichnet werden.
Andere Kantone führten ähnliche Beschränkungen ein. Die Urner Regierung verbot per Verordnung alle Kundgebungen mit mehr als 100 Personen. Der Anlass dafür war eine angekündigte Demonstration in Altdorf, zu der 10’000 Massnahmengegner erwartet wurden.
Am kommenden Freitag entscheidet nun das Bundesgericht, ob die Einschränkung der Grundrechte in Bern und Uri gerechtfertigt war. Das Urteil wird wegweisend sein für die vierte Welle. Es wird zeigen, ob die Kantone das Recht haben, Demonstrationen wieder derart zu beschränken.
Linke und Rechte kämpfen für die gleiche Sache
Das Bundesgericht behandelt zwei Beschwerden von ganz unterschiedlichen Gruppierungen. Eine stammt vom bürgerlichen Aktionsbündnis Urkantone, die andere von links-grünen Berner Parteien und Vereinen. Die einen wollen ohne Masken gegen Coronamassnahmen protestieren, die anderen mit Masken für Frauenrechte und gegen den Klimawandel. Beide kämpfen für die Versammlungsfreiheit.
Einen Achtungserfolg haben sie bereits erzielt. Die Beschwerden haben mindestens eine Bundesrichterin oder einen Bundesrichter überzeugt.
Normalerweise, in 99,8 Prozent aller Fälle, entscheidet das höchste Gericht einstimmig. In den 0,2 Prozent der Fälle, in denen es keinen Konsens findet, beruft es eine öffentliche Beratung ein, und die Richter diskutieren ihre Meinungsunterschiede vor Publikum – wie jetzt.
Es geht um eine Grundsatzfrage. War der Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gerechtfertigt, weil das öffentliche Interesse der Gesundheit höher zu gewichten ist? Ja, meint die Urner Regierung. Sie beschreibt in ihrer Beschwerdeantwort, wie besorgniserregend die Situation damals gewesen sei. Die Covid-Station sei voll belegt gewesen.
Die Regierung zieht einen speziellen Vergleich: «Am 10. April 2021, dem Tag, als unbewilligt und ohne Masken mehrere hundert Personen vor dem Telldenkmal für mehr Freiheit demonstrierten, verstarben drei Personen im Kantonsspital Uri an den Folgen ihrer Covid-19-Erkrankung.»
Was ist wichtiger, Freiheit oder Gesundheit?
Jurist Artur Terekhov vertritt die Urner Beschwerde. Die Abwägung zwischen Freiheit und Gesundheit beantwortet er so: «Eine freie Gesellschaft muss bereit sein, für politische Grundrechte Risiken einzugehen. Dazu gehört auch, dass man sich an einer Demonstration infizieren und im Extremfall daran sterben kann.»
Die Regierungen von Bern und Uri argumentieren, dass dank der Digitalisierung politische Meinungen auch ohne Gesundheitsgefährdung verbreitet werden könnten. Auf Social Media sei die Reichweite sogar grösser als auf der Strasse.
Das sei etwas ganz anderes, entgegnen die Beschwerdeführerinnen. Demonstrationen hätten eine Warn-, Kontroll- und eine Innovationsfunktion.
Zürcher Gericht beurteilte den Eingriff als unverhältnismässig
In Bern und Uri kommen solche Beschwerden direkt vor Bundesgericht. In Zürich hingegen führt auch das Verwaltungsgericht eine sogenannte Normenkontrolle durch. Im April urteilte es, dass die Zürcher Regelung unverhältnismässig war. Wie in Bern waren nur Demonstrationen mit 15 Personen erlaubt. Die Einschränkung sei übertrieben, weil eine mildere Massnahme die gleiche Wirkung erzielt hätte: die Bewilligungspflicht. So hätten kleine und kurze Versammlungen erlaubt werden können, an denen Schutzmassnahmen eingehalten werden. Dies sei jedoch nicht praktikabel, fand eine Minderheit des Gerichts, die ihre Meinung ebenfalls ins Urteil schrieb.
Die Zürcher Regierung prüfte einen Weiterzug, verzichtete dann aber darauf. Nun kommt es doch noch zu einem höchstrichterlichen Entscheid.
Das Bundesgericht greift nur bei schweren Verstössen in die Autonomie der Kantone ein. Ein Erfolg der Beschwerden wäre deshalb aussergewöhnlich.