Wer ist die neue Frau an der Spitze der Taskforce und wie geht sie mit den Drohungen und Anfeindungen um?

Pakete ohne Absender öffnet Tanja Stadler nicht mehr. Diese bringe sie direkt zur Security. Es ist ein Satz, den sie beiläufig im Gespräch fallenlässt. Doch es ist eine Aussage, in der die ganze gesellschaftliche Sprengkraft der Pandemie liegt.

Bevor das Coronavirus vom Tier auf den Menschen übersprang, arbeiteten Wissenschafterinnen und Wissenschafter in der Schweiz unbehelligt. Mehr noch: Von den meisten nahm die Öffentlichkeit keine Notiz. Hypothesen, Modelle, Resultate: Das diskutierten sie in Fachkreisen.

Den Hass spürt die Forscherin sehr direkt

Seit eineinhalb Jahren ist das anders. Zumindest für Epidemiologinnen wie Tanja Stadler. Sie tritt im Schweizer Fernsehen auf, gibt Zeitungs- und Radiointerviews. Wissenschaftlichen Erkenntnisse prägen plötzlich den Alltag. Masken im Zug, geschlossene Restaurants, Homeoffice: Das beeinflusst das Leben eines jeden Einzelnen. Und das schürt Frustrationen und Hass.

Hass, den auch Tanja Stadler abbekommt. So wie viele Mitglieder der Taskforce, die sich öffentlich exponieren. Bei Stadler gingen die Drohungen so weit, dass die Bundespolizei aktiv wurde. Doch statt sich in die Welt der Zahlen zurückzuziehen, tritt die 40-jährige Biostatistikerin nach vorne. Am 17. August leitet sie den ersten Point de Presse als neue Taskforce-Chefin. Ehrenamtlich. Weshalb tut sie sich das an?

Der Vorwurf, Zahlen manipuliert zu haben, ging ihr nahe

Tanja Stadler sitzt an einem Montagnachmittag im Juli entspannt in ihrem Büro. Die Beine übereinandergeschlagen, die dunkelbraunen Haare offen, der Blick interessiert. «Die Pandemie ist nicht vorbei. Es braucht das evidenzbasierte Wissen weiterhin», sagt sie.

Die Politik müsse nicht immer das tun, was die Wissenschaft empfehle. Aber sie müsse zumindest über das aktuelle Wissen verfügen. «Ich beschäftige mich beruflich schon lange mit Infektionskrankheiten. Es ist für mich selbstverständlich, nun die Erkenntnisse zu Corona aufzuarbeiten und bereitzustellen. Dies mit dem Ziel, dass es dem Land, ja uns allen, hilft, aus der Krise herauszukommen», sagt Stadler.

Eine Wissenschafterin mit grossem Verantwortungsgefühl

Es ist eine Aussage, die nach Heldentum klingen könnte. Bei Stadler nicht. Im Gespräch geht es ihr nie um die eigene Person. Es ist immer die Wissenschaft, die sie ins Zentrum stellt. Antwortet sie auf Fragen zum Privatleben zurückhaltend, blüht sie bei jenen zur Forschung auf, holt aus, gestikuliert. Sie wird nicht nur als leidenschaftliche und brillante Wissenschafterin beschrieben, sondern auch als eine Forscherin mit grossem Verantwortungsgefühl und Sorgfalt.

Wohl auch deshalb war es nicht der Hass oder die Hetze, die sie in den vergangenen eineinhalb Jahren am stärksten verletzten. Es war der Vorwurf, Zahlen manipuliert zu haben – der totale Angriff auf ihre berufliche Integrität.

«Das ging mir sehr nahe. Niemand, der vernünftige Wissenschaft betreibt, würde Zahlen manipulieren. Unsere Rechnungen sind zudem öffentlich einsehbar.»

Mehrfach habe sie sich überlegt: Hätten die Mitglieder der Taskforce anders kommunizieren sollen? Hätten sie stärker darauf pochen müssen, dass Politik und Medien stets das Unsicherheitsintervall mitliefern? «Wir leben in einer Krise. Alles ist unsicher, da kann keine Statistik absolute Sicherheit liefern», sagt Stadler. Wie sich die Szenarien entwickeln, hängt davon ab, wie sich die Menschen verhalten. Und dafür gibt es keine Formel, kein Modell.

Als Kind sortierte sie Bauklötzchen nach Farben

Probleme in Zahlen zu beschreiben und sie zu quantifizieren: Diese Abstraktion ist es, die Stadler an der Mathematik fasziniert. Damit lässt sich ein Überblick und Ordnung schaffen. Dinge, die es Stadler ermöglichen, klarer denken zu können. Das fing früh an. Als Kind sortierte sie ihre Bauklötzchen nach Farbe. Heute muss der Schreibtisch aufgeräumt sein, bevor sie mit der Arbeit beginnen kann. Sie unterbricht sich, wirft einen Blick auf ihren Tisch. «Also gerade jetzt sieht der zwar gar nicht ordentlich aus», sagt sie. Auf dem Tisch liegen drei lose Blätter, ein Stift.

Als Wissenschafterin hat Tanja Stadler eine Bilderbuchkarriere hingelegt.

Als Wissenschafterin hat Tanja Stadler eine Bilderbuchkarriere hingelegt.

Bild: Roland Schmid

Stadler will Vorgänge verstehen, sie durchdringen und erfassen. Nachdem sie in München und Neuseeland studiert und doktoriert hat, kam sie zur ETH-Gruppe von Sebastian Bonhoeffer. «Schon damals war mir klar, dass ich die Bewerbung einer aussergewöhnlich guten Wissenschafterin in den Händen halte. Sie hat massgeblich dazu beigetragen, dass wir heute anhand der Erbinformationen von Pathogenen wie Viren oder anderen Krankheitserregern Rückschlüsse auf deren Ausbreitung ziehen können», sagt er.

Phylogenetik heisst Stadlers Gebiet, das auf Genetik und Bioinformatik basiert. Dadurch können evolutionäre Abstammungen berechnet werden. Etwa, wie Arten entstehen oder aussterben. Oder wie sich Viren ausbreiten und verändern.

Mit ihrem Vater trennte sie schon als Kind Sauerstoff und Wasserstoff

Mathematik, Informatik, Genetik: Stadler hat sich nicht nur in einer Männerdomäne durchgesetzt, sie hat gleich mehrere miteinander verbunden. Bereits als Kind habe sie sich für naturwissenschaftliche Phänomene interessiert. Diese seien in ihrem Elternhaus präsent gewesen. Ihre Eltern – eine Mathematikerin und ein Mathematiker – hätten zudem nie einen Unterschied zwischen ihr und ihrem Bruder gemacht.

Mit ihrem Vater trennte sie etwa das Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff – und freute sich über den Knall bei der Wiederherstellung des Wassers. Erst in der Schule bekam sie von einer Lehrerin zu hören, dass Mädchen angeblich weniger gut räumlich denken können als Knaben. «So etwas kann verunsichern. Ich wusste aber, dass es nicht stimmt. Mir wurde es anders vorgelebt», sagt Stadler.

Fast hätte sie ihr Mathematikstudium hingeschmissen

Zwei Jahrzehnte später legte sie eine Bilderbuchkarriere hin: Bereits im Alter von 32 Jahren erhielt sie eine Assistenzprofessur am ETH-Departement für Biosysteme in Basel. Drei Jahre später folgte die ausserordentliche Professur.

Der Erfolg habe sie nicht verändert, sagt Bonhoeffer, der mit ihr in der Taskforce sass. «Obwohl sie als Postdoc ausserordentlich gut und erfolgreich war, hatte sie sich in der Gruppe nie eine Sonderrolle herausgenommen.

In der Taskforce war sie zwar eine der Jüngsten, konnte sich aber stets Gehör verschaffen, da sie extrem kompetent ist.

Sie ist sehr kollegial und wird als Person geschätzt. Auch weil sie ein gutes Gespür dafür hat, was bei anderen passiert», sagt Bonhoeffer.

Trotz ihres Erfolgs: Bis heute sei sie nicht frei von Unsicherheiten, sagt Tanja Stadler.

Trotz ihres Erfolgs: Bis heute sei sie nicht frei von Unsicherheiten, sagt Tanja Stadler.

Bild: Roland Schmid

Nicht immer ist Tanja Stadler alles leicht von der Hand gegangen. Beinahe hätte sie nach dem ersten Semester ihr Mathematikstudium abgebrochen. Zu gross waren die Selbstzweifel, es nicht zu schaffen. Anders ihre männlichen Kommilitonen: Viele von ihnen behaupteten ihr gegenüber, den Stoff verstanden zu haben.

Mutter zweier kleiner Kinder

Weil sie nicht wusste, welches Hauptfach sie anstelle von Mathematik studieren sollte, schrieb sie dennoch die Prüfungen. Und bestand. «Es war ein Lernprozess, nicht alles für bare Münze zu nehmen. Aber auch später stellte ich in Begegnungen mit anderen Frauen wiederholt fest, dass sie sich im Schnitt oftmals weniger zutrauen als Männer», sagt Stadler.

Frei von Unsicherheiten sei sie bis heute nicht. «Ich überlege häufig lange hin und her, ob ich eine neue Aufgabe annehme – und dieser auch gerecht werden kann», sagt Stadler. Dies auch aus zeitlichen Gründen. Stadler ist Mutter zweier kleiner Kinder. Deshalb übernimmt sie die Leitung der Taskforce bis Ende Jahr. Irgendwann danach möchte sie auch bedenkenlos wieder Pakete öffnen, die ohne Absender auf ihrem Schreibtisch landen.