
Wie Roger Herzog vom jungen Betreuten zum Berufsbildner wurde
Das Leben kann schnell in Schieflage geraten. Die Stiftung Villa Erica in Nebikon hat unter anderem die berufliche und soziale Integration von Jugendlichen zum Ziel, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Der 25-jährige Roger Herzog war früher selbst «Klient» in Nebikon. Den jungen Mann und Koch mit dem Bart und den Tattoos an den Unterarmen könnte man sich gut an einem Rockkonzert vorstellen. Doch hinter der maskulinen Schale steckt ein sensibler Kern, der früh verletzt wurde.
«Als Kind habe ich den Stempel ADHS respektive früher POS aufgedrückt bekommen», sagt er als Erstes. Der Mutter wurde dies von der Schule und vom Arzt mitgeteilt. Der Knabe wuchs in einem Dorf im Wahlkreis Willisau auf, galt als «verhaltensauffällig». «Ich konnte nicht ruhig dasitzen oder mich konzentrieren.» Man verabreichte ihm Ritalin, später Concerta, beide Medikamente haben schwere Nebenwirkungen. Er sprach fast nicht mehr und ass mittags nichts. Erst abends wieder, wenn die Wirkung des Medikaments nachliess. «Ab der 6. Klasse wollte ich keine Medikamente mehr nehmen», erzählt er. Er begab sich freiwillig drei Jahre ins Kinder- und Jugendheim Schachen in Malters. Dort erzielte er bessere schulische Leistungen als an seinem Wohnort.
Zwischen 16 und 18 erlebte er eine Odyssee und verlor den Halt
Mit 16 Jahren fand er eine Lehrstelle als Koch. «Ich musste aber abbrechen, weil der Umgang im Betrieb unerträglich war», erzählt Herzog. Es folgte ein zweiter Versuch im Sommer 2013, der ebenfalls nicht klappte, weitere Versuche folgten. Zwischen 16 und 18 Jahren erlebte er seine persönliche Odyssee. «Ich hatte keinen Halt mehr und kein Standbein in der Gesellschaft.» Die Zusammenarbeit im Team und besonders der Umgang mit Kritik bereiteten ihm Mühe. Dazu kam sein ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein: «Wenn ich das Gefühl hatte, dass Kritik nicht angemessen war und ich etwas anders erlebt hatte, stellte es mir ab.» Dann blockte er und verschloss sich ganz. Das wiederum löste Emotionen auf der Gegenseite aus. Er wurde viel angeschrien.
Attest- und Kochlehre in Nebikon mit Bravour abgeschlossen
Schliesslich wechselte Herzog vom ersten Arbeitsmarkt in den sogenannten geschützten Arbeitsmarkt und lernte die Villa Erica kennen. «Auf Anhieb fühlte ich mich wohl dort», erinnert er sich. Und vor allem endlich akzeptiert. Der Bereichsleiter, Giuseppe Competiello, gab ihm damals die Gelegenheit, längere Zeit in der Küche zu schnuppern. Er kam zur Ruhe. Durch grosse Unterstützung vieler Beteiligter und durch seine Familie wuchs sein Selbstvertrauen. Im Sommer 2015 startete Roger Herzog in der Villa Erica die zweijährige Grundbildung als Koch mit Berufsattest (EBA). Er lebte zuerst in der Wohngruppe, danach selbständig in einer zur Institution gehörenden Aussenwohnung. Heute erinnert er sich gerne an diese Zeit zurück: «Persönlich habe ich vieles dazugelernt und man schätzte mich, so wie ich bin.» Bei Pascal Fehlmann, dem Leiter der Gastronomie, konnten die Lernenden jederzeit ihre eigenen Rezepte einbringen und ausprobieren. «Das fand ich megatoll.» 2017 schloss er die Attestlehre ab – mit Auszeichnung und Ehrenmeldung. «Mir wurde damals bewusst, dass nichts unmöglich ist und ich ein erstes Ziel erreicht hatte», sagt er. Danach konnte er im Restaurant Café Sowieso in Luzern eine verkürzte reguläre Grundbildung als Koch EFZ absolvieren (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis). «Ich werde die Leute nie vergessen, die das ermöglicht haben.» Die Lehrstelle wurde extra für ihn geschaffen.
Roger Herzog schloss ein zweites Mal erfolgreich ab. Er gehörte zu den Besten im Kanton Luzern. Im Sommer 2019 kam er in die Villa Erica zurück und leistete seinen Zivildienst als Durchdiener in der Küche. Im Anschluss bot ihm die Institution eine Festanstellung als agogischer Mitarbeiter und Berufsbildner im Lehrbetrieb Küche an.
Seit November 2020 ist der ehemalige Klient festangestellter Koch und hat eine verantwortungsvolle Aufgabe übernommen. Er gibt sein Fachwissen nun mit dem Küchenchef zusammen sieben bis acht Lernenden weiter. Herzog möchte in Zukunft eine Ausbildung als Arbeitsagoge und Berufsbildner absolvieren und freut sich auf den weiteren Weg. Laut dem Küchenchef und Arbeitsagogen Pascal Fehlmann ist Roger Herzog der erste Klient, der in der Villa Erica auf die Mitarbeiterseite gewechselt hat. Er sei oft der Vorreiter und sei sehr motiviert in dem, was er tue, schaue, mache, bleibe länger im Betrieb. «Ich habe keinen Tag bereut, ihn angestellt zu haben», sagt Fehlmann. Der Betrieb profitiere davon, dass Herzog beide Seiten kenne. «Er kann immer sagen, was gewisse Aussagen oder Handlungen bei einem Klienten auslösen.»
Sozialpädagoge: «Roger Herzog schützt die Schwächeren»
Der Sozialpädagoge Philip Hasler hat Roger Herzog über Jahre im betreuten Wohnen begleitet. «Er hatte immer eine soziale Ader und hat sich immer vor die Schwächeren gestellt», sagt Hasler. Herzog habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, weil er sich selbst früher manchmal ungerecht behandelt fühlte.
Aus seinen Erfahrungen hat Roger Herzog mitgenommen, dass man keine Angst haben und Hilfe annehmen sollte: «Anderen vertrauen und offen sein, das habe ich ebenfalls lernen müssen.» Wie geht er selbst mit den Lernenden um? «Ich nehme jeden, wie er ist, nach der Devise ‹ich bin o.k., du bist o.k.›», sagt Herzog. Er bemühe sich, die andere Person auf Augenhöhe – und nicht wie ein Kleinkind – zu behandeln.

Die Stiftung eröffnet diesen Monat eine Tagesschule für Jugendliche
Die Vorgeschichte der Stiftung Villa Erica begann in den 1970er Jahren. Das Gründerehepaar Rainer und Heidi Kern lebte als Grossfamilie mit drei eigenen und acht externen Jugendlichen im Haus Villa Erica an der Bahnhofstrasse 22 in Nebikon. 1983 wurde die gleichnamige Stiftung gegründet. Erste Stiftungsratspräsidentin war die Zofingerin Doris Spätig. 1984 anerkannte das Bundesamt für Sozialversicherungen die Stiftung.
In knapp 40 Jahren haben sich die Institution und ihre Aufgabenfelder stetig weiterentwickelt. Präsident des Stiftungsrats ist heute Daniel Spätig, die Geschäftsleiterin die Brittnauerin Ursula Disler. Die Stiftung fördert Jugendliche und Erwachsene in ihrer schulischen, beruflichen und sozialen Integration. Ziel ist, dass sie ihr Leben selbständig und eigenverantwortlich gestalten können. Die Entwicklungs- und Integrationsarbeit erfolgt ganzheitlich nach anerkannten sozialpädagogischen und agogischen Grundsätzen. Die privatrechtlich organisierte Institution hat einen Leistungsauftrag des Kantons Luzern, der alle vier Jahre erneuert werden muss. Sie erhält Beiträge der IV und des Gesundheits- und Sozialdepartements (GSD).
Die Stiftung Villa Erica kümmert sich um psychisch beeinträchtigte und/oder verhaltensauffällige Menschen. Die Dienstleistungen und Angebote umfassen die Bereiche Sekundarschule für Jugendliche, die Berufsbildung für Jugendliche und junge Erwachsene sowie die Werkstatt für Erwachsene mit psychischen Beeinträchtigungen oder in grossen Lebenskrisen. Sämtliche Bereiche verfügen über ein Angebot für sozialpädagogisch betreutes Wohnen. Momentan begleitet die Stiftung 80 Klienten (12 Schülerinnen und Schüler, 33 Lernende und 35 Erwachsene) und beschäftigt 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (sie teilen sich 45 Vollzeitstellen).
Nebikon ist der Hauptsitz der Stiftung. Im Juni 2019 eröffnete die Stiftung neben dem Gründerhaus einen modernen Neubau (wir berichteten). Im «Zentro Erica» sind die geschützte Werkstatt, der Lehrbetrieb Hauswirtschaft, ein Teil des Lehrbetriebes Küche, Studios für Lernende und erwachsene Betreute, die Mensa, der «Villa Shop» und die Verwaltung untergebracht. Gleich vis-à-vis vom Bahnhof Nebikon befinden sich das Schul- und Berufsbildungszentrum mit den Lehrbetrieben Schriftenatelier, Malerei und Technischer Dienst, ebenso die Sekundarschule, der pädagogische Förderunterricht sowie die Kunst- und Maltherapie. In Murgenthal gibt es ferner in der Villa Sandhubel eine Wohngruppe sowie weitere Lehrbetriebe der Stiftung für die Berufe Hauswirtschaft und Garten- und Landschaftsbau. Am 23. August eröffnet die Stiftung als Neustes eine Tagesschule für zehn Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe. «Wir kommen damit einem Bedürfnis des Kantons Luzern nach, der uns für diesen Leistungsausbau angefragt hatte», sagt Geschäftsleiterin Ursula Disler. (ben)