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«Wir dürfen sie nicht vergessen»: Hitzkircher helfen Opfern der Flutkatastrophe in Deutschland

«Wir dürfen sie nicht vergessen»: Hitzkircher helfen Opfern der Flutkatastrophe in Deutschland

Seit vier Monaten fahren Michael Brunner und seine Frau jedes Wochenende ins deutsche Flutgebiet. Zusammen mit Tausenden anderen Freiwilligen wollen sie den Menschen Hoffnung bringen. 

Reto Bieri

Vier Monate ist es her, seit ein Unwetter in Deutschland schwere Schäden angerichtet hat. Betroffen waren besonders das Ahrtal und die Eifel in den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Dutzende Brücken, Strassen, Eisenbahnschienen und zig Häuser wurden von den Wassermassen weggespült, Tausende weitere beschädigt. Viele Menschen verloren in den Fluten Hab und Gut oder sogar ihr Leben. Deutschlandweit sind rund 180 Menschen gestorben, davon zwei Drittel alleine im Ahrtal.

Die Gleise sind weggespült – aufgenommen im Ahrtal zwischen den Ortschaften Dernau und Marienthal Ende September.

Bild: PD

«Als meine Frau und ich diese Bilder sahen, war uns klar, dass wir diesen Leuten helfen müssen», sagt der Hitzkircher Michael Brunner (44). In den sozialen Medien kursierten Aufrufe zur Freiwilligenhilfe, darunter auch von Freunden aus Deutschland. Kurzerhand beschloss das Ehepaar, ins betroffene Gebiet zu fahren.

Betroffen wegen des riesigen Ausmasses der Katastrophe

Michael Brunner.

Bild: Reto Bieri

Eigentlich wollten die beiden nur für ein paar Tage hin, um zu helfen. Doch seither haben sie fast jedes Wochenende die rund 600 Kilometer lange Strecke unter die Räder genommen. Der Hauptgrund ist das riesige Ausmass der Katastrophe. «Das wird einem erst vor Ort so richtig bewusst», sagt Michael Brunner. «Wir konnten nicht einfach wegschauen.» Die Anteilnahme sei riesig gewesen. «Handfeste Hilfe nützt den Betroffenen aber mehr.» Auch die Sommerferien verbrachte das Paar zum Helfen im Flutgebiet. Sie haben dazu ein Wohnmobil gemietet.

Was mit einer Handvoll Leute begann, wuchs durch zufällige Begegnungen im Verlauf von Wochen und Monaten zu einem Helferteam von fast 100 Personen an. Sie nennen sich sinnigerweise «We Ahr Here». Die meisten aus der Gruppe kannten Michael und Simone Brunner zuvor nicht. Sie sind die einzigen Schweizer. Mittlerweile habe die Gruppe familiäre Züge angenommen.

Anstelle der Strasse klafft ein Loch: Die Tunnelverbindung nach Altenahr, fotografiert vier Wochen nach der Flut.

Bild: PD

Vor Ort schaufeln die Helferinnen und Helfer Schlamm und Dreck weg, reissen in Häusern Tapeten runter, organisieren die Essensversorgung für die Bevölkerung oder entkernen Gebäude. Letzteres bedeutet, dass alles bis aufs Mauerwerk herausgerissen wird:

Helfer von «We Ahr Here» beim Entkernen eines Hauses in der Ortschaft Marienthal Ende September.

Bild: PD

Nur vom Strom-, Gasnetz und den Wasserleitungen lassen die Freiwilligen die Finger. «Das übernehmen besser die Profis.»

Das Einsatzgebiet erstreckt sich über die Dörfer im ganzen Ahrtal hinweg. «Wir helfen dort, wo wir gebraucht werden», sagt Brunner. Meist per Mund-zu-Mund-Propaganda – oder durch Zufall. «Als wir bei einem Haus arbeiteten, ging eine ältere Frau vorbei. Wir haben gefragt, ob sie Hilfe braucht. Das war tatsächlich der Fall.» Weder habe die Trinkwasserversorgung noch die Heizung im Haus der Seniorin funktioniert. Aufs Klo musste sie auf ein Toitoi-WC, das rund 200 Meter entfernt war.

«We Ahr Here» ist nur eine von vielen Helfergruppen im Flutgebiet. Laut Brunner sind nach wie vor Tausende von Freiwilligen im Einsatz:

«Ohne sie würde es gar nicht gehen.»

Die staatliche Hilfe funktioniert laut Brunner nicht wirklich, es fehle die Koordination. Die Behörden würden zu bürokratisch agieren und nicht auf die Bedürfnisse der Einheimischen eingehen, kritisiert Brunner.

Psychisch und physisch belastbar sein

Nicht nur für die direkt Betroffenen, auch für die Helferinnen und Helfer könne die Situation belastend sein. Ihm selber sei es zum Glück nicht passiert, aber zu Beginn sei man bei den Aufräumarbeiten manchmal auf tote Personen gestossen. Als Helfer müsse man psychisch stabil sein. Erfahrung mit aussergewöhnlichen Situationen hat der gebürtige Österreicher. Brunner war in seinem Heimatland ein paar Jahre Berufssoldat und hat dabei auch Katastropheneinsätze geleistet. Der 44-Jährige wohnt seit rund 20 Jahren in der Schweiz und arbeitet in Sins bei einer Firma für Insektenschutzsysteme.

Michael Brunner und seine Frau wollen auch weiterhin regelmässig nach Deutschland fahren, solange es «möglich und machbar» ist. «Jede freiwillige Helferin und jeder Helfer schenkt der Region wieder Hoffnung, das ist das Schönste», sagt Brunner. Von den Einheimischen höre man oft, dass sie in den Tagen nach der Katastrophe die Hoffnung verloren hätten. «Als sie dann diese ‹Trupps von Gestörten› sahen, die mit anpackten, haben sie wieder Hoffnung geschöpft», sagt Brunner schmunzelnd.

Die Menschen sind zunehmend niedergeschlagen

Brunner appelliert daran, dass die Opfer der Flutkatastrophe nicht vergessen werden:

«Der Winter naht, draussen wird es kalt. In manchen Häusern funktioniert die Heizung nicht, auch Strom und fliessendes Wasser gibt es vielerorts nach wie vor keines.»

Die Menschen vor Ort seien wegen des nahenden Winters zunehmend niedergeschlagen.

«We Ahr Here» organisiere deshalb im Dezember für vier Gemeinden einen Nikolausmarkt. «Wir wollen den Menschen damit signalisieren, dass sie auch in der kalten Jahreszeit nicht alleine sind.» Zusammen mit einer weiteren Helfergruppe habe man zudem Weihnachtswunschzettel an rund 250 Kinder im Ahrtal verteilt, die ihre Wünsche erfüllt bekommen sollen. Damit zumindest für die Kleinsten so etwas wie Normalität einkehrt.

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