«Wir müssen die Gesundheit gegen die Wirtschaft abwägen»: Was ein Menschenleben wert sein soll

Das Thema der Sommertagung der Aargauer Freisinnigen war alles andere als sommerlich leicht. «Was ist uns ein Menschenleben wert?», hiess die grosse Frage, die in der Turnhalle in Lengnau verhandelt wurde.

Konkret ging es um eine Frage, die besonders während der Coronapandemie in den Fokus geriet: Wie viel soll die Allgemeinheit für die Verlängerung eines einzelnen Menschenlebens zahlen? In Franken, aber auch in Solidarität und Einschränkungen, wie etwa dem Lockdown.

Wie viele Franken darf ein Lebensjahr die Allgemeinheit kosten?

Die vom Fanen für die Schweizer Nati noch heisere Präsidentin der FDP Aargau, Sabina Freiermuth, richtete gleich zu Beginn die Frage an das mehrheitlich grauhaarige Publikum: «Haben Sie sich einmal überlegt, wie alt sie werden wollen?» Für sie sei die Antwort an Bedingungen geknüpft, so wolle sie zum Beispiel niemandem zur Last fallen. Die Pandemie habe aufgezeigt, dass solche Fragen wichtig seien, sagte Freiermuth: «Wir müssen diese Diskussion als Gesellschaft führen.»

Für die Podiumsdiskussion geladen waren Christoph Zenger, Jurist und Leiter des Zentrums Gesundheitsrecht und Management im Gesundheitswesen der Uni Bern, die Epidemiologin Nicole Probst-Hensch vom Tropeninstitut in Basel, der Gesundheitsökonom Stefan Felder sowie Tobias Hottiger, Arzt und FDP-Grossrat.

Podiumsdiskussion in Lengnau: Von links: Tobias Hottiger, FDP-Grossrat, Stefan Felder, Gesundheitsökonom, Nicole Probst-Hensch, Epidemiologin, Martina Sigg, Apothekerin und Christoph Zenger, Jurist. Bild: Britta Gut
Podiumsdiskussion in Lengnau: Von links: Tobias Hottiger, FDP-Grossrat, Stefan Felder, Gesundheitsökonom, Nicole Probst-Hensch, Epidemiologin, Martina Sigg, Apothekerin und Christoph Zenger, Jurist. Bild: Britta Gut

 

Einig waren sich die Redner, dass man mehr und offener darüber sprechen müsse, wie viel man bereit ist, für lebensverlängernde Massnahmen zu zahlen: «Es ist wichtig, dass man klare Regeln hat, bevor ein Ereignis, wie etwa die Coronapandemie, stattfindet», sagte Ökonom Felder. Klare Regeln bedeutet in diesem Fall, ein monetärer Wert für die Verlängerung eines Lebens.

Die Gesundheit gegen die Wirtschaft abwägen

Doch wer bestimmt das? Für FDP-Grossrat Hottiger ist klar: «Das muss die Politik entscheiden, auf der Basis einer gesellschaftlichen Diskussion.» Momentan sei dieses Thema noch stark tabuisiert, das müsse sich ändern. So habe man während der Pandemie oft den Satz gehört: «Wir dürfen die Gesundheit nicht gegen die Wirtschaft abwägen.» Die Antwort von Hottiger: «Doch, genau das müssen wir machen.»

Auch ohne die Pandemie drängt sich die Frage nach den Kosten für lebensverlängernde Massnahmen immer mehr auf. Das Novartis-Medikament Zolgensma gegen die Erbkrankheit Muskelatrophie wurde diese Woche auch in der Schweiz für Kinder bis zwei Jahre zugelassen. In Deutschland kostet es mehr als 2 Millionen Euro, wie hoch der Preis in der Schweiz ist, ist nicht bekannt. «Wer soll entscheiden, ob die Allgemeinheit das bezahlen soll?», fragt Martina Sigg, ehemalige FDP-Grossrätin und Apothekerin. Für sie ist klar: Der Staat muss eine Güterabwägung vornehmen.

«Das Land hat ein Problem mit dem Zugang zu Gesundheitsdaten»

Die Entscheidung, ob eine Therapie angewendet wird oder nicht, falle in der Realität oft am Krankenbett durch den behandelnden Arzt, sagte der Jurist Christoph Zenger. Genau daran stört sich Hottiger – deshalb will er die Politik in die Verantwortung nehmen: «Der Arzt ist der Anwalt des Patienten, er kann nicht entscheiden.»

Neben der Frage nach den tragbaren Kosten habe die Pandemie auch eine andere Achillesferse der Schweiz zum Vorschein gebracht, sagte Epidemiologin Probst-Hensch: «Das Land hat ein Problem mit dem Zugang zu Gesundheitsdaten.» Diese brauche es aber für eine erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie. Diese Ansicht teilt FDP-Nationalrätin Maja Riniker: «Wir treten uns mit dem hohen Datenschutz in der Schweiz selber auf den Fuss», sagte sie im Anschluss an die Podiumsdiskussion.

Letztlich wurden viele Fragen aufgeworfen an der Sommertagung der FDP. Doch die Frage, wie viel den Prämienzahler ein Leben nun konkret kosten darf, blieb dabei unbeantwortet.