Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann: ««Für 2018 kann man relativ sicher sein»»

Herr Straumann, im groben Überblick: Wie steht es um die Schweiz Anfang 2018?
Grundsätzlich ist das Land sehr gut aufgestellt. Was mir aber Sorgen macht, ist der Immobilienboom. Man weiss aus der Geschichte: Wenn die Entwicklung zu schnell dreht, kann das enormen Schaden anrichten. Im Moment ist das nicht zu befürchten, aber eine Immobilienkrise bleibt kurzfristig das grösste Risiko.

Ein unberechenbares Risiko?
Ja, extrem unberechenbar sogar. Man muss beim Immobilienmarkt immer vom Schlimmsten ausgehen, damit man genug Reserven hat, um eine Krise aufzufangen. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass es automatisch zu einer weichen Landung kommen wird.

Bei den Banken heisst es, von einer Blase sei man noch weit entfernt.
Es ist immer so, dass man das Gefühl hat, es sei keine Blase, solange der Boom anhält – und dann gibt es trotzdem eine unerwartet scharfe Korrektur. Was stimmt: Die Banken sind besser aufgestellt als zur Zeit des letzten Immobilienbooms in den 1980er-Jahren. Die Nationalbank und die Finanzmarktaufsicht haben für mehr Kapitalpuffer gesorgt. Auf der anderen Seite aber wissen wir wenig über die künftige Einwanderungsgeschwindigkeit. Man hat in den letzten Jahren eher zu viel gebaut, weil man davon ausging, dass weiterhin um die 80 000 Menschen pro Jahr einwandern. Unabhängig von der Politik ging die Einwanderung aber zurück, weil es in Europa besser läuft. Die Leute wollen ja im Grundsatz zu Hause bleiben, manche gehen sogar zurück. Wenn die Einwanderung abrupt zurückgeht, kommen die Immobilienpreise schnell ins Rutschen.

Das Seco hat für 2018 gerade die Prognosen nach oben korrigiert. Grund für viel Optimismus also.
Ja gut, es ist das erste Jahr seit 2010, in dem es wieder mal richtig aufwärtsgeht. Irgendwann musste das ja kommen. Das war in dem Sinne überfällig.

Wie lange hält das gute Klima an?
Keine Ahnung. Ich denke, für 2018 kann man relativ sicher sein. 2019 kommt es vielleicht bereits zu einer Überhitzung. Eine Unwägbarkeit bleibt der Franken. Der sieht jetzt endlich wieder gut aus …

… Sie meinen den Euro-Wechselkurs.
Ja. Aber die Unsicherheiten bleiben. Italien wählt 2018; vielleicht kommt plötzlich wieder Nervosität auf, weil man sieht, dass die Grundprobleme der Währungsunion nicht gelöst sind. Eine Aufwertung des Frankens ist also von heute auf morgen möglich. Das würde die Konjunktur wieder bremsen.

2017 war die Digitalisierung in aller Munde. Wie fit ist die Schweiz?
Der Hype ist erstaunlich, weil wir ja schon längst mit der Digitalisierung konfrontiert sind und recht gut damit zu Rande kommen – ausser vielleicht bei den Medien, wo das neue Geschäftsmodell noch nicht absehbar ist. Ich glaube auch nicht, dass es zu Massenarbeitslosigkeit kommen wird, weil man Menschen ersetzen kann. Der technische Fortschritt ist ein normaler Prozess, es entstehen ja gleichzeitig neue Berufe. Die Schweiz ist mit der Berufsbildung, die laufend an die neue Realität angepasst wird, ohnehin gut gerüstet. Noch ein ganz anderer Punkt: Ich selbst erlebe Digitalisierung oft nicht als kreativ oder disruptiv, sondern extrem einengend. Digitalisierung ermöglicht auch Bürokratisierung, und zwar in einem Masse, wie wir das noch nie gesehen haben. Davon spricht fast niemand, obwohl diese Erfahrung fast alle in ihren Berufen machen.

Zum Beispiel?
Informationsflüsse, die vorher nicht möglich waren, werden ausgewertet und als Führungsinstrumente verwendet, obwohl sie total unnötig und überflüssig sind. Ein Beispiel ist das Punktewesen im universitären Bologna-System. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass jede Universität für jede Veranstaltung festlegen muss, wie viele Punkte es gibt. Früher gab es Seminararbeiten, Übungen und Vorlesungen. Heute muss alles genau festgelegt und aneinander angepasst sein, und weil es unzählige Schnittstellen gibt, ist die Verwaltungsarbeit explodiert. Ich glaube, im Grundsatz ist das bei den grossen Firmen nicht anders. Diese Diskussion über diesen wachstumsschädigenden Aspekt der Digitalisierung wird kaum geführt.

Sie selbst sind ohne Smartphone, wie man sieht.
Mehr aus Bequemlichkeit. Ich brauche unterwegs nur ein Telefon. Ansonsten finde ich das Internet fantastisch, gerade für die wissenschaftliche Arbeit. Früher musste ich mir Aufsätze in der Bibliothek beschaffen, vielleicht war das Buch sogar ausgeliehen und ich musste einen Monat warten.

Die Digitalisierung packen wir, sagen Sie. Wo sehen Sie denn dringenderen Handlungsbedarf?
Es gibt Baustellen, die zwei grössten sind die Unternehmenssteuerreform und die Altersvorsorge. Alarmiert bin ich aber nicht, das kommt schon gut. Bei der Unternehmenssteuerreform sind die Interessen relativ klar, da wird man sich finden. Bei der Altersvorsorge haben die meisten Leute dank der Diskussion realisiert, dass Anpassungen nötig sind. Das Paket hat einfach noch nicht gestimmt.

Ist nicht auch die Gesundheitspolitik eine Baustelle?
Doch. Hier sehe ich mittelfristig die grösste politische Herausforderung. Gesundheit darf kosten, klar, aber das Kostenwachstum ist zu schnell. Die Anreize sind falsch: Wir können unbeschränkt Gesundheitsangebote nachfragen, und auf der Angebotsseite ist teilweise einfach zu viel da. Da hinauszufinden ist ein langer Weg, da sehe ich keine schnellen Schritte. Ein ähnliches Phänomen haben wir bei der Sozialhilfe, hier steigen die Ausgaben teilweise auch zu schnell, vor allem bei den Jungen.

Schauen wir kurz über die Schweiz hinaus. Mit Blick auf die Finanzmärkte haben Sie im April geschrieben, die Lage sei begrenzt vertrauenswürdiger geworden. Seit da ist der US- Aktienindex von Höchststand zu Höchststand geklettert. Warum so misstrauisch?
Eine so lange tiefe Zinsphase führt dazu, dass die Leute in Aktien und Immobilien gehen und sich dabei verschulden. Das ist ein weltweites Phänomen. Wenn die Korrektur kommt, über die Zinsen oder eine Rezession, dann ist sie umso stärker, je länger der Aufbau der Schulden gedauert hat. Dieses Ungleichgewicht dauert seit der Finanzkrise an, und das ist auf die Dauer gefährlich. Die Banken haben zwar mehr Eigenkapital, aber meines Erachtens ist das immer noch zu wenig.

Aber die Banken haben Instrumente geschaffen, um bei einer Krise zu reagieren.
Ja, aber wir haben keine Erfahrung mit den neuen Instrumenten, mit denen man kurzfristig Fremdschulden in Eigenkapital umwandeln kann. Manche Beobachter sagen, dass dieser Umwandlungsmechanismus die Panik eher noch befeuern würde. Ausserdem werden sogenannte Bankentestamente gemacht, also Abwicklungspläne, wie man im Fall einer existenzbedrohenden Situation reagiert. Diese wurde aber auch noch nie durchgespielt. Zum Vergleich: Grossbanken hatten im 19. Jahrhundert etwa 20 Prozent hartes Eigenkapital; heute müssen es nur mindestens 3,5 Prozent sein.

Wird Südeuropa 2018 endlich wieder auf die Beine kommen?
Ich befürchte nein. Die Südländer senken zwar ihre Kosten, aber dieser Spareffekt wird kompensiert durch Deutschland, das in der gleichen Zeit sehr viel produktiver geworden ist. Es ist also ein Nullsummenspiel. Die Schulden sind immer noch enorm, das bremst extrem. Spanien wächst schneller als andere, ist aber auch nicht in der Lage, die Schulden abzubauen. Es mag jetzt ein paar Jahre besser laufen, das Grundproblem aber bleibt.

Das Siechtum der Südländer hält also an?
Ja, so lange es nur geht. Ein mögliches, aber unwahrscheinliches Szenario ist, dass Italien aus der Eurozone austritt. Das würde eine gefährliche, chaotische Übergangszeit einleiten. Entsprechend traut sich kein Politiker, diesen Weg zu gehen. Ich kann mir deshalb vorstellen, dass die jetzige Situation noch lange anhält, obwohl sie höchst unbefriedigend ist.

Die USA haben gerade Steuersenkungen für Unternehmen beschlossen. Wandern jetzt massenhaft Unternehmen ab?
Nein, ich kann mir das nicht vorstellen. Die Amerikaner gehen ja nicht auf neue Tiefststände hinunter, sondern gleichen ihre Steuern lediglich dem europäischen Niveau an, beseitigen also einen Wettbewerbsnachteil. Es ist schwer denkbar, dass zum Beispiel die UBS deswegen ihren Sitz nach New York verlegt.

Aus Sicht des Wirtschaftshistorikers: Wie beurteilen Sie das erste Amtsjahr Trumps?
Trump wurde von den Republikanern domestiziert. Seine populistischen Forderungen sind verschwunden. Steuersenkung: klassisch republikanisch. Deregulierung: klassisch republikanisch. In Afghanistan will er bleiben. Die Finanzierung der Mauer dagegen steht nicht; das Infrastrukturprogramm ist sekundär geworden. Unter dem Strich ist also wenig Neues passiert. Ich finde, es wird zu hysterisch über ihn berichtet. Er mag eine schwierige Persönlichkeit sein, aber ich bin überrascht, dass seine Kritiker dermassen die Fassung verloren haben.

Wir haben ebenfalls eine Populismus-Debatte, geschürt von der No-Billag. Wie stehen Sie dazu?
Ich werde sicher Nein stimmen, hoffe aber, dass die SRG die Debatte aufnimmt und etwas ändert. Sie ist zu monopolistisch aufgetreten. Noch besser wäre, wenn sie bereits jetzt sagen würde, was sie ändern will.

Wie hoch sollten Ihrer Meinung nach die Gebühren sein?
Das kann ich nicht sagen, da begebe ich mich auf Glatteis. Es geht ja auch nicht nur ums Geld, sondern auch um die allzu starke Marktstellung der SRG. Hier muss sich etwas ändern.

Ist das Thema bei Ihren Studenten eigentlich wichtig?
Überhaupt nicht. Bei denen ist eher die Vollgeld-Initiative ein Thema.

Die kaum jemand versteht. Sie wohl schon, oder nicht?
Ich verstehe das Anliegen. Die Initiative will verbieten, dass das private Bankensystem über den Kreditmechanismus Geld schaffen kann, was mit ein Grund ist für Finanzkrisen. Für mich geht die Initiative aber zu weit. Ich wäre wie gesagt zufrieden, wenn die Banken mehr Eigenkapital halten müssten.

Gefragter Referent: Straumann spricht am Europa Forum im Oktober 2016 über das heisse Eisen Zuwanderung.
Gefragter Referent: Straumann spricht am Europa Forum im Oktober 2016 über das heisse Eisen Zuwanderung.

 

…Sie meinen den Euro-Wechselkurs.
Ja. Aber die Unsicherheiten bleiben. Italien wählt 2018; vielleicht kommt plötzlich wieder Nervosität auf, weil man sieht, dass die Grundprobleme der Währungsunion nicht gelöst sind. Eine Aufwertung des Frankens ist also von heute auf morgen möglich. Das würde die Konjunktur wieder bremsen.

2017 war die Digitalisierung in aller Munde. Wie fit ist die Schweiz?
Der Hype ist erstaunlich, weil wir ja schon längst mit der Digitalisierung konfrontiert sind und recht gut damit zu Rande kommen – ausser vielleicht bei den Medien, wo das neue Geschäftsmodell noch nicht absehbar ist. Ich glaube auch nicht, dass es zu Massenarbeitslosigkeit kommen wird, weil man Menschen ersetzen kann. Der technische Fortschritt ist ein normaler Prozess, es entstehen ja gleichzeitig neue Berufe. Die Schweiz ist mit der Berufsbildung, die laufend an die neue Realität angepasst wird, ohnehin gut gerüstet. Noch ein ganz anderer Punkt: Ich selbst erlebe Digitalisierung oft nicht als kreativ oder disruptiv, sondern extrem einengend. Digitalisierung ermöglicht auch Bürokratisierung, und zwar in einem Masse, wie wir das noch nie gesehen haben. Davon spricht fast niemand, obwohl diese Erfahrung fast alle in ihren Berufen machen.

Das gesamte Interview lesen Sie in der ZT/LN-Ausgabe vom Wochenende.