
Zwei Länder, zwei Morde, ein Motiv: Der islamistische Terror wird wieder zum Grossthema in Europas Regierungszentralen
Islamist oder psychisch Verwirrter? Im Fall des Pfeilbogenmörders im norwegischen Kongsberg ist diese Frage nach wie vor nicht geklärt. Anders sieht es bei dem Mord am britischen Abgeordneten David Amess am vergangenen Freitag und bei der Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty vor einem Jahr (16. Oktober 2020) aus. Die Täter waren in beiden Fällen radikalisierte junge Islamisten.
Nachdem der islamistische Terror die globale Politik nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vor allem in Nordamerika komplett umgekrempelt hat, heizen die jüngsten Anschläge im britischen Leigh-on-Sea und in Paris die Debatte auch in Europa wieder von neuem an.
Ganz deutlich zeigt sich das ein Jahr nach dem Samuel-Paty-Mord in Frankreich. Der Geschichtslehrer musste sterben, nachdem er Mohammed-Karikaturen des Satiremagazins Charlie Hebdo im Unterricht thematisiert hatte. Der 18-jährige Mörder publizierte nach der Tat ein Video mit dem abgeschnittenen Kopf des Lehrers und schrieb dazu: «Von Abdullah, Diener Allahs, für Macron, den Anführer der Ungläubigen: Ich habe einen deiner Höllenhunde exekutiert, der es gewagt hat, den Propheten Mohammed zu erniedrigen.»
Er wurde später von der Polizei erschossen. Gegen 16 Mitläufer wird ermittelt.
Mit neuen Gesetzen gegen den Terror
Doch der Mord am Geschichtslehrer hat nicht nur juristische, sondern auch handfeste politische Konsequenzen. Anders als nach der Anschlagsserie von 2015, als Islamisten die Charlie-Hebdo-Redaktion und das Bataclan-Konzertlokal attackiert hatten, gab es nach Samuel Paty kaum Tränen, dafür viel Wut.
Präsident Emmanuel Macron spürte, dass im Land etwas gärte. Er liess das «Komitee gegen Islamophobie» wegen seiner Nähe zu einem Anti-Paty-Agitatoren auflösen und aktivierte ein Gesetz «zur Stärkung republikanischer Prinzipien». Es schaffte unter anderem einen Tatbestand für verbale oder physische Gewalt gegen Staatsbedienstete.
Der Erlass war noch nicht in Kraft, da wurde im April in Rambouillet, einem anderen beschaulichen Vorstädtchen von Paris, eine Polizistin zu «Allahu Akbar»-Rufen erstochen. Der Täter, ein depressiver 37-jähriger Tunesier, hatte sich übers Internet radikalisiert. Flugs erfanden Macrons findige Juristen ein neues Delikt und stellten den Besuch extremistischer Webseiten unter Strafe. Im Sommer schuf Macron zudem ein «interministerielles Laizismus-Gremium», das unter anderem zum Ziel hat, das säkulare Prinzip an Schulen und im Sport zu verankern.
Islam-Gegner schlagen politischen Profit aus der Krise
Doch vielen Franzosen klingt das zu lasch. Seit Samuel Patys Tod glauben sie nicht mehr an neue Gesetze und Verbote, Chartas und Instanzen. Ein Jahr später findet diese Stimmung ihren politischen Ausdruck. Ein erstes Indiz gab es im Frühling, als eine Gruppe pensionierter Generäle ein Pamphlet gegen die «Banlieue-Horden» verbreitete und dagegen eine Art Militärputsch empfahl. 58 Prozent der Franzosen gingen mit dem Inhalt der Brandschrift einig.
Die linksliberale Zeitung Le Monde erkannte, dass der Paty-Mord offensichtlich «einen Bruch in der öffentlichen Meinung» bewirkt habe. Sichtbar wird das jetzt auch im einsetzenden Präsidentschaftswahlkampf: Er wird völlig dominiert von ausdrücklichen Islam- und Migrationsgegnern wie Marine Le Pen oder dem rechtsradikalen Eric Zemmour.
Ihr Erfolg zwingt die übrigen Kandidaten zum Nachziehen: Der konservative Kandidat Michel Barnier plädiert für ein Immigrations-Moratorium, seine gemässigtere Parteifreundin Valérie Pécresse für Einwanderungsquoten. Die Linke schweigt, tief gespalten zwischen harten Laizisten und Migrations-Befürwortern, und versucht vergeblich, stattdessen wirtschaftspolitische Themen zu lancieren.
Wie sich der Islamisten-Mord an David Amess auf die britische Politik auswirken wird, bleibt abzuwarten. Boris Johnsons Kabinett hat in einem ersten Schritt Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter ins Visier genommen, die dem Hass auf Politiker eine zu einfache Manege bieten würden. Das, sagte Johnsons Innenminister Priti Patel, müsse sich jetzt schleunigst ändern.