
50 Jahre Frauenfussball in der Schweiz: Eine Murgenthaler Pionierin blickt zurück
Das runde Leder ist in Silvia Lerch-Stahels Leben nach wie vor präsent, wie ein Geburtstagsgeschenk ihrer Tochter beweist. (Bild: Thomas Fürst) Das runde Leder ist in Silvia Lerch-Stahels Leben nach wie vor präsent, wie ein Geburtstagsgeschenk ihrer Tochter beweist. (Bild: Thomas Fürst)
Fotoalben, Zeitungsausschnitte, Briefkopien, Fanpost – es liegt alles bereit. Säuberlich geordnet. Silvia Lerch-Stahel hat viele Erinnerungen an ihre Jugend bewahrt. Eine bewegte Jugendzeit, in der sie sich zusammen mit ihrer Schwester und weiteren Frauen dafür eingesetzt hat, dass auch Frauen Fussball spielen dürfen. «Ja,» sagt die heute 73-jährige Murgenthalerin, «man kann schon sagen, dass Murgenthal und Zürich Mitte der 1960-er-Jahre die Zentren des Frauenfussballs in der Schweiz waren». In einer Zeit notabene, als anderorts in Europa der Frauenfussball noch verboten war – wie etwa in Deutschland (bis 1970) oder in England (bis 1971).
Dabei zeigten die beiden in Schaffhausen aufgewachsenen Stahel-Schwestern ursprünglich keine übermässige Begeisterung für das runde Leder, obwohl ihr Vater Platzwart beim FC Schaffhausen war. «Wir begleiteten unseren Vater wohl auf den Platz, sahen auch Spiele, aber der Fussball war damals erstaunlicherweise kein Thema für uns», sagt Silvia Lerch.
Das änderte sich erst nach dem beruflich bedingten Umzug der Familie nach Murgenthal, wo der Vater, Edwin Stahel, eine Tankstelle mit Pneuservice übernahm. Silvia Lerch, die damals ein Welschlandjahr absolvierte, erinnert sich an einen Brief, den ihr ihre Schwester Monika schickte. «Monika schrieb mir, dass sie mit der Gärtnerstochter Theres Rüsch öfters Fussball auf dem Turnhallenplatz spiele», erzählt Silvia Lerch. Sie habe das ihrer Madame erzählt und gemeint, das wäre wohl nichts für sie. «Als ich dann nach Murgenthal zurückkehrte, war ich automatisch auch dabei», sagt sie und lacht. Ja, das ungewohnte Bild von den kickenden Mädchen habe im Dorf zu reden gegeben, sie seien aber von den Schulbuben, die gerne mitspielten, auch bewundert worden, erzählt Silvia Lerch weiter.
Französische Skistars als «Namensgeber»
Traten die beiden Schwestern das runde Leder mit einigen Kolleginnen anfangs mehr zum Spass, so wurde das regelmässige Training unter der Leitung von Monika Stahel schon bald systematischer und strukturierter. Es folgten die Teilnahme an Grümpelturnieren, bei denen auch Frauen zugelassen waren und die Vereinsgründung. «Wir waren Fans der Goitschel-Schwestern, der beiden französischen Skistars», verrät Silvia Lerch, «und so gaben wir unserem Verein den Namen FC Goitschel Murgenthal».
Die «Goitschels» wurden bekannt und auch ein wenig berüchtigt, denn die Equipe mit der rechten Flügelstürmerin Monika Stahel und Goalie Silvia Lerch-Stahel fand kaum mehr gleichwertige Gegnerinnen auf dem Fussballplatz.
Weitere Ziele hatten die beiden Schwestern aber nach wie vor im Blickfeld. «Ja, wir wollten richtige Spiele mit Elfer-Teams und eine Meisterschaft», betont Silvia Lerch. In einem Brief an den Schweizerischen Fussballverband (SFV) wollten die Stahel-Schwestern 1965 wissen, ob ihr Verein als Mitglied des SFV Anerkennung fände und offizielle Spiele im Rahmen einer Meisterschaft ausgetragen werden könnten. Dieses Gesuch wurde – nachdem sich der Verband bei Sportärzten und benachbarten Verbänden informiert hatten – abgewiesen. Als «Trostpflaster» wurde den jungen Damen dafür angeboten, sich als Schiedsrichterinnen ausbilden zu lassen. Monika Stahel und Silvia Lerch-Stahel ergriffen die Gelegenheit und wurden die beiden ersten Schiedsrichterinnen im SFV.
«Es ist also kein Aprilscherz»
Einen weiteren Wunsch konnten die beiden Schwestern dafür umsetzen: Ein richtiges Damenfussballspiel, bei dem zwei Elferteams gegeneinander spielten. Ausgetragen wurde es im Frühjahr 1967 in Wohlen – der FC Goitschel fegte dabei das kombinierte gegnerische Team aus Wohlen und Zürich, den Vorläufer des DFC Zürich, mit 6:0 vom Platz.
Unter dem Titel «Uraufführung in Wohlen» schrieb der Wohler Anzeiger damals tatsächlich: «Es ist also kein Aprilscherz! Am Sonntagvormittag steigt auf dem 2. Sportplatz bei trockenem Wetter ein Damenfussballspiel. (…) Einige dieser Damen betätigen sich schon seit längerer Zeit als Schiedsrichterinnen bei Juniorenspielen, sodass eine gewisse Regelsicherheit vorausgesetzt werden darf. (…) Es wurde uns noch ans Herz gelegt, darauf hinzuweisen, dass keine Masseure mehr gefragt sind, da es schon schwerfalle, aus den bis jetzt eingegangenen Bewerbungen den geeignetsten Bewerber für diese gewiss nicht einfache Aufgabe zu bestimmen. (…) Wir wünschen den Damen viel Vergnügen bei ihrem etwas ausgefallenen Hobby und den Zuschauern, dass sie ein amüsantes Spielchen zu sehen bekommen.»
Den FC Gemeinderat besiegt
Dieser offen herablassenden Art, die den Fussballdamen vom Wohler Anzeiger entgegenbracht wurde, sei man in Murgenthal nie begegnet, hält Silvia Lerch fest. Im Gegenteil: Als man sich in Murgenthal mit dem Gedanken befasste, einen Altersheim-Neubau zu erstellen, sei ein Fest geplant gewesen, an dem Geld für die Finanzierung zusammengetragen werden sollte. Am Parkfest 1965 wollte auch der FC Goitschel einen Beitrag leisten. Als die Geschwister auf der Gemeinde vorsprachen, wurden sie gebeten, einen Benefiz-Fussballmatch gegen den FC Gemeinderat auszutragen. «Wir gewannen 7:2 und konnten dank den Eintritten einige hundert Franken spenden», erinnert sich Silvia Lerch.
Die mittlerweile aus allen Ecken des Kantons zusammengewürfelten Fussballerinnen des FC Goitschel fragen schliesslich 1968 beim FC Aarau an, ob sie sich nicht dem Verein anschliessen dürften. «Wir haben gemerkt, dass wir als FC Goitschel nicht mehr weiterkommen, sondern uns einem offiziellen Verein anschliessen müssen», kommentiert Silvia Lerch diese Entwicklung. Das Gesuch wurde gutgeheissen, der DFC Aarau gegründet.
So erfüllten sich Monika Stahel und Silvia Lerch einen weiteren Wunsch – einmal in einem richtigen Stadion zu spielen. Als Vorspiel zur Herrenpartie zwischen Aarau und Baden standen sich am 19. Oktober 1968 der DFC Aarau und der DFC Sparta-Zürich gegenüber. Die Aarauerinnen siegten 15:0.
Rasante Entwicklung hingelegt
Als die erste offizielle Schweizer Meisterschaft der Damen 1970 durchgeführt wurde, standen die beiden Schwestern nicht mehr auf dem Spielfeld. «Als es den FC Goitschel nicht mehr gab, war es einfach nicht mehr dasselbe», führt Silvia Lerch aus. Der DFC Aarau aber, mit einigen «Goitschels» in seinen Reihen, wurde vier Mal in Folge Schweizer Meister. Und der Frauenfussball in der Schweiz entwickelte sich gegen alle Widerstände rasant. Die Nationalliga A startete 1970 mit 18 Teams und 270 Spielerinnen. Heute gibt es in der Schweiz rund 21000 lizenzierte Spielerinnen.
Ein wenig bedauere sie, dass sie damals mit dem Fussball aufgehört hat, gibt Silvia Lerch-Stahel zu. «Aber unser Ziel haben wir erreicht: Der Frauenfussball konnte in der Schweiz Fuss fassen», betont Silvia Lerch nicht ohne Stolz. Und die Erinnerungen an die schöne Zeit könne ihr niemand nehmen. Erinnerungen, die regemässig aufgefrischt werden, denn sechs «Goitschels» treffen sich auch heute noch alljährlich unter dem Motto: «Weisch no…».