Noch eine Mutation: Eine neue Variante des Coronavirus versetzt Indien in den Ausnahmezustand

Von den dicht bevölkerten Ländern hatte fast jedes schlimme Coronawellen – oder mehrere. Bis auf Asien. Mit strengen Massnahmen wie in China oder Südkorea blieben auf diesem Kontinent in vielen Ländern die Infektionszahlen tief. Sogar in Indien. Bis Anfang April verzeichnete das Land keine einzige heftige Welle. Und nun auf einmal das: Die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt in Indien geradezu extrem an. Mehr als 169 auf eine Million Menschen erhielten zuletzt pro Tag ein positives Testresultat im 1,35-Milliarden-Einwohnerland.

Das ist zwar noch weniger als die 234 Infizierten pro Million und Tag in der Schweiz, doch die Kurve steigt steil, obwohl sich viele nicht testen lassen, weil sie die Konsequenzen fürchten. Wie Ravi (Name geändert). Als der Test ergab, dass der Tagelöhner Corona hat, rannte er davon und verschwand in den engen Gassen des Slums Lalbagh in der indischen Megacity Delhi. Der 38-Jährige wollte sich nicht in eines der Quarantänezentren begeben. Mindestens 14 Tage hätte der alleinige Ernährer seiner Familie dort festgesessen, ohne eine Rupie verdienen zu können.

Angst vor Lohnausfall ist grösser als vor dem Virus

Shiv Kumari

Shiv Kumari (Jim Wungramyao Kasom)

Die staatliche Gesundheitshelferin Shiv Kumari hat Ravi schliesslich gefunden und versucht, zu vermitteln. Die 42-Jährige sagt:

«Auch wenn die Infektionszahlen gerade rasant steigen, haben die Menschen eher Angst, dass sie wegen einer Zwangsquarantäne oder eines zweiten harten Lockdowns verhungern könnten, als dass sie am Virus sterben. Deshalb wollen viele sich nicht testen lassen.»

Dass das der Pandemiebekämpfung schadet, ist nichts Neues. Aber erst jetzt explodiert die Zahl der Neuinfektionen.

Schuld daran ist vermutlich die indische Mutation B.1.617. In England zeigt sich aktuell, dass das eine Virusvariante sein könnte, die sich gut durchsetzt. Denn obwohl dort die besonders ansteckende Variante B.1.1.7 heimisch ist, und obwohl schon 62 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, steigt der Anteil der indischen Variante in England schnell an. Auch in der Schweiz wurden bereits einige wenige Viren dieser Mutation sequenziert.

Das könnte heissen, dass die indische Variante nicht nur ansteckender als die britische ist, sondern dass auch die Impfung schlechter wirkt. Allerdings sind das erst Befürchtungen, Beweise gibt es noch keine. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft B.1.617 erst als Variante «unter Beobachtung», nicht als «besorgniserregende Variante» ein.

Zwei der Mutationen auf dem Virus B.1.617 heissen E484Q und L452R. Sie verändern das dornenförmige Spikeprotein auf der Virushülle, mit welchem das Coronavirus an menschliche Zellen andockt. Deshalb sind Mutationen dort immer heikel. Richard Neher, Experte für die Evolution von Viren an der Universität Basel, sagt gegenüber der «Süddeutschen Zeitung»:

«Wie gefährlich eine Variante am Ende ist, kann anhand der Mutationen allein nicht beurteilt werden»

Ein Virus sei mehr als die Summe seiner Teile. In manchen Ländern sehe es so aus, als würde der Anteil von B.1.617 an den Infektionen schnell zunehmen. «Aber die Zahlen sind noch klein, das kann man nicht mit Sicherheit sagen», so Neher. In jedem Fall müsse diese Variante sehr genau beobachtet werden.

Indien stoppt den Export seiner Impfungen

Selbst wenn diese oder oder eine andere Mutation sich so verändert haben, dass die bisherigen Impfungen weniger wirksam sind, gehen die Fachleute doch davon aus, dass Impfungen weiterhin zumindest vor schweren Verläufen schützen.

Und um die eigene Bevölkerung schneller zu schützen, exportiert Indien mittlerweile keine Corona-Impfstoffe mehr. Doch die Impfkampagne kommt zu langsam voran, beim derzeitigen Impftempo würde es noch 13 Monate dauern, 60 Prozent der riesigen Bevölkerung zu schützen.

Keine Impfdosen mehr fürs Ausland: Indien stoppt den Export, um für die eigene Bevölkerung genug zu haben.

Keine Impfdosen mehr fürs Ausland: Indien stoppt den Export, um für die eigene Bevölkerung genug zu haben. Sandra Ardizzone / AGR

Vor einem zweiten, harten Lockdown schreckt die Regierung aus Angst vor erneuten schweren wirtschaftlichen Folgen zurück. Mit der weltweit grössten Ausgangssperre hatte Indien vor einem Jahr auf die Pandemie reagiert. Die Auswirkungen auf die Bevölkerung waren so schlimm, dass Staat und Hilfsorganisationen Millionen Menschen mit Lebensmittelhilfslieferungen unterstützen mussten.

Nun aber sind sogar Cricketspiele und grosse Wahlkampfveranstaltungen wieder erlaubt. Anfang April kamen beim Kumbh Mela, dem grössten hinduistischen Fest der Welt, Millionen Menschen zusammen, um zu feiern und im Ganges zu baden. Die Teilnahme war offiziell nur mit einem negativen Coronatest erlaubt, doch es ist klar, dass auch dieses Fest ein Grund für die erste heftige Coronawelle in Indien gewesen sein könnte.

Nicht nur die Patienten sind krank, auch Spitalpersonal steckt sich an

Suvirajh John im Sir Ganga Ram Hospital in Delhi befürchtet überfüllte Krankenhäuser.

Suvirajh John im Sir Ganga Ram Hospital in Delhi befürchtet überfüllte Krankenhäuser. Bild: Sir Ganga Ram Hospital

«Viele Menschen haben mittlerweile die Angst vor dem Virus verloren», sagt Suvirajh John, Chefarzt am renommierten Sir Ganga Ram Hospital in Delhi. Der Arzt befürchtet ebenfalls, dass die jetzt in Indien vorherrsche Virusmutation ansteckender und auch gefährlicher ist. Denn viele Krankenhäuser füllten sich jetzt schnell mit Covid-19-Patienten, und das medizinische Personal erkranke oft ebenfalls.

«Wenn das Gesundheitssystem in bestimmten Regionen unseres Landes an seine Grenzen gerät – und das wird passieren –, wird die Regierung mit regionalen Lockdowns reagieren, um den Krankenhäusern eine Chance zu geben, wieder die Oberhand über das Virus zu bekommen», sagt Suvirajh John.

In der Hauptstadt Delhi und im besonders betroffenen Bundesstaat Maharashtra, in dem auch die 12,5-Millionen-Einwohner-Wirtschaftsmetropole Mumbai liegt, wurden bereits Wochenendlockdowns und nächtliche Ausgangssperren verhängt. Und die Impfkampagne soll verbessert werden.