
Die Welt steht wieder einmal unmittelbar vor dem Untergang – wie Freikirchen von Corona profitieren

In den letzten Tagen hatten mehrere Murgenthaler Haushalte spezielle Post im Briefkasten: Ein Flyer, der auf der Frontseite Bilder diverser Katastrophen wie Krieg, Dürre oder Hunger zeigt. Darunter steht rot umrandet: «Unsicherheit macht sich breit! Was kommt als nächstes? Die Bibel gibt uns Antwort!» Inmitten der Katastrophenbilder sticht prominent die Darstellung eines Coronavirus hervor. Urheber des mehrseitigen Flyers, dem gleich der Gutschein für eine Bibel beiliegt, ist die EFG Roggwil, eine Freikirche, die früher der Bewegung der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinden der Schweiz angehörte. Dass eine Freikirche zur aktuellen Zeit einen Flyer verschickt und so allenfalls Neumitglieder anwerben will, ist für Georg Otto Schmid, Leiter der Informationsstelle relinfo, keine Überraschung.
Georg Otto Schmid, nutzt hier eine Freikirche die aktuelle Situation aus, um neue Mitglieder anzuwerben?
Georg Otto Schmid: Einige Freikirchen, die wie die EFG Roggwil eher am radikaleren Rand der Freikirchenszene stehen, sind in der Corona-Krise mit ähnlichen Botschaften aufgefallen. Sie lesen die Pandemie als Hinweis auf die Nähe der Endzeit und wollen vorher noch allen Menschen die Chance geben, zu den Erlösten zu gehören.
Weshalb?
Für sie erfüllt das Auftreten des Coronavirus biblische Prophezeiungen zum Ende der Zeit. Der nächste Schritt ist, dass die – in ihren Augen – rechtgläubigen Menschen in den Himmel geholt werden. Währenddessen gehen auf der Erde die Endzeitereignisse los, der Anti-Christ taucht auf und so weiter. Da in ihren Augen nur Gleichgläubige, die aber nicht zwingend derselben Kirche angehören, erlöst werden können, sind sie aktuell besonders missionarisch.
Also ist der Flyer eigentlich eine gute Tat?
Aus der Sicht der EFG ist es bestimmt ein menschenfreundlicher Akt. Generell ist das Werben für den Glauben, das Evangelisieren, ein wichtiges Anliegen von Freikirchen. Es sollen möglichst viele Menschen errettet werden. Das können aber nur diejenigen erreichen, die aus freikirchlicher Sicht den richtigen Glauben vertreten.
Geht das nicht schon fast in Richtung Sekte?
Wenn sich eine Freikirche von einem strukturgebenden Verband löst und es zu einer Radikalisierung kommt, kann es tatsächlich vorkommen, dass eine Versektung stattfindet. Etwa, wenn sich der Leiter plötzlich in der Bibel wiedersieht. Die EFG Roggwil ist aber keine Sekte. Ihnen ist es egal, ob die Menschen der EFG Roggwil oder einer anderen, ähnlichen Gemeinschaft angehören. Hauptsache, der Glauben stimmt.
Haben die Freikirchen mit ihrem Missionieren gerade in solchen Zeiten Erfolg?
Das Interesse rund um solche endzeitlichen Kirchen ist sicher gestiegen. Gerade online haben sie ein grosses Publikum, das aber oft schon aus dem freikirchlichen Umfeld kommt und nun versucht, die Pandemie irgendwie einzuordnen. Bei diesen Menschen stossen apokalyptische Theorien auf reges Interesse. Aber nicht nur bei den Freikirchen, auch im Bereich der Esoterik gibt es Umschichtungen. Dort sind es vor allem die Verschwörungstheoretiker, die Zulauf haben. Ich schätze, dass heute etwa jeder zweite Esoteriker Verschwörungstheorien vertritt. Bei unserer Fachstelle drehen sich aktuell ein Viertel aller Anfragen um Freikirchen und ein weiterer Viertel um Esoteriker.
Also gibt es heute auch in der Schweiz noch Esoteriker?
Ja, die gibt es. Ich würde die Zahl derer, die wirklich ein esoterisches Weltbild vertreten und sich nicht einfach einmal die Karten legen lassen oder ähnliches, auf rund 300 000 Menschen schätzen. Ihre Bewegung nennen sie heute eher «Spiritualität» oder «alternative Spiritualität». Es ist aber die gleiche Strömung, die in den 80er Jahren unter dem Namen «Esoterik» trendy war.
Gibt es analog zu den Esoterikern auch Freikirchen, die Verschwörungstheorien vertreten?
Das ist eine eher neue Erscheinung, dass es tatsächlich Freikirchen oder einzelne Mitglieder gibt, die Verschwörungstheorien wie etwa QAnon vertreten. Mehrheitsfähig sind diese Meinungen allerdings nicht. Bei der EFG Roggwil habe ich noch nicht festgestellt, dass es esoterische Verschwörungstheorien gibt.
Dem Flyer der EFG Roggwil ist der Gutschein für eine Bibel beigelegt. Bekomme ich Besuch, wenn ich diese Bibel bestelle?
Wie es die EFG Roggwil handhabt, weiss ich natürlich nicht. Grundsätzlich erhält man bei einer Freikirche einfach die Bibel. Dazu gibt es oft noch eine Anleitung zum Verständnis der Bibel aus freikirchlicher Sicht und manchmal auch eine Liste der Freikirchen in der Gegend, von denen man sich doch einer anschliessen soll. Im letzteren Fall kommen gelegentlich auch Besuche vor, um zu schauen, ob sich die Personen, welche eine Bibel erhielten, inzwischen wirklich einer empfohlenen Organisation angeschlossen haben.