
Bewegungsexperte warnt vor Übergewicht durch Home Office – und wir sagen, was Sie dagegen tun können

Der ehemalige Elite-Radfahrer Roy Salveter entwirft als Vertreter des BAG in der Arbeitsgruppe Sport Vorschläge zuhanden des Bundesrats. Welche Einschränkungen oder Lockerungen im Sportangebot machen während der Corona-Pandemie Sinn? Die Folgen von Lockdown und Home Office sieht er als grosse Herausforderungen.
2022 wird nach fünf Jahren wieder die grosse Schweizer Gesundheitsbefragung durchgeführt. Auch Sie warten gespannt auf die Erkenntnisse. Wieso?
Roy Salveter: Ich befürchte, dass sich die positive Entwicklung im Bereich Bewegung und Ernährung aufgrund der Corona-Pandemie und der Einschränkungen nicht fortsetzt. Die Anstrengungen, damit die Menschen aktiver werden und das Übergewicht eindämmen, haben in den vergangenen zwölf Jahren einige Erfolge gezeigt. Jetzt werden wir möglicherweise weniger Aktivität und mehr Übergewicht feststellen als in der letzten Befragung von 2017.
Weshalb befürchten Sie eine deutliche Abnahme der Bewegungsaktivität?
Erste Studien über die Situation im ersten Lockdown zeigen interessante Zahlen. Zwar haben sich rund sieben Prozent der Bevölkerung mehr bewegt als üblich, aber bei 22 Prozent nahm die Bewegung im Vergleich zu vorher ab. Das sind tendenziell Menschen, die sich bereits zuvor eher an der unteren Grenze der Bewegungsempfehlungen aufhielten. Das ist gesundheitlich relevant, weil wir den positiven Effekt von mindestens 150 Minuten Bewegung wöchentlich verlieren. Übergewicht, weniger Muskelmasse, erhöhtes Risiko etwa für Herzkreislauf- oder Stoffwechselkrankheiten, verschlechtertes psychisches Wohlbefinden und andere gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind die Folgen.
Zahlen zeigen doch aber, dass die Anzahl Übergewichtige bereits seit den Neunzigerjahren stetig steigt?
Diese Tendenz wurde erkannt und der Bund hat zusammen mit den Kantonen und der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz 2008 das Programm Ernährung und Bewegung lanciert. Mit diesen Bestrebungen haben wir versucht, das Problem des zunehmenden Übergewichts in den Griff zu bekommen. Es gab erste ermutigende Signale. Die Kurve der Gewichtszunahme in der Bevölkerung ist deutlich abgeflacht. Die Kurve der Gewichtszunahme in der Bevölkerung ist deutlich abgeflacht. Zwischen den Gesundheitsbefragungen 2012 und 2017 konnten wir die Situation stabilisieren. Die Hoffnung war, dass unsere Strategie nun weitere Erfolge mit sich bringen wird. Nun befürchten wir einen Rückschlag.
Home Office lässt den BMI steigen
Die ersten Ergebnisse zum Bewegungsverhalten der Schweizer Bevölkerung aus dem Covid-19 Social Monitor sind alarmierend. Knapp ein Viertel der Leute bewegten sich während des ersten Lockdowns weniger als zuvor. Rund drei Prozent verliessen zu Beginn des Lockdowns die eigene Wohnung innerhalb einer Woche gar nie. Generell wurde durch den massiven Rückgang des Angebots viel weniger Sport betrieben. Einen negativen Einfluss auf die Bewegung und damit auch auf das Körpergewicht hat das Home Office. Eine Studie sagt aus, dass die im Sitzen verbrachte Zeit während des ersten Lockdowns deutlich zunahm. Am grössten war diesbezüglich die Veränderung der eigenen Gewohnheiten bei jungen Menschen. Aber auch die Ernährungsgewohnheiten veränderten sich im Home Office. Erste Erkenntnisse aus der MIS Trend-Studie zeigen eine Tendenz zur Zunahme der Menge konsumierter Nahrungsmittel. Vor allem wurden Snacks zwischen den Mahlzeiten deutlich öfters konsumiert. Dies hat ebenfalls einen Einfluss auf die Gewichtszunahme während des Lockdowns. In der Schweiz gibt es noch keine Daten zu einer allfälligen Erhöhung des Body Mass Indexes (BMI) während der Pandemie. Eine Erhebung aus Deutschland weist eine Zunahme des durchschnittlichen BMI während der ersten Lockdown-Zeit im Frühling nach. (rs)
Also salopp ausgedrückt: Der BMI steigt mit den Anzahl Wochen im Home Office?
Wo liegen die Probleme beim Home Office: Der kurze Weg zum Kühlschrank?
Die sitzende Tätigkeit ist noch ausgeprägter als im Büro. Der Weg ins Geschäft fällt weg. Bei mir persönlich fallen damit täglich 7000 Schritte weg. Zuhause komme ich in einem Tag ohne Sport auf knapp 700 Schritte. Die gesundheitlichen Folgen des Sitzens sind nicht zu unterschätzen. Vor allem, wenn man nicht dazwischen ab und zu aufsteht, um zum Drucker oder in den Kaffeeraum zu gehen. Der sitzende Lebensstil ist übrigens auch für Sportlerinnen und Sportler risikoreich. Es bringt wenig, wenn man acht Stunden sitzt und danach am Abend Sport treibt. Das stündliche Unterbrechen einer sitzenden Tätigkeit ist wichtig für das Herz-/Kreislaufsystem.
Dann braucht es nach der Pandemie ein staatlich verordnetes Fitnessprogramm für die Bevölkerung?
Nein. Einerseits ist die Schweiz grundsätzlich recht gut aufgestellt. Die Bevölkerung bewegt sich im Durchschnitt mehr als in anderen mitteleuropäischen Ländern. Das hat auch mit unseren Strukturen im Sport zu tun. Schwierig ist die Situation jener Leute, die als inaktiv bezeichnet werden. Da geht es nicht einmal darum, Sport zu betreiben. Sondern sich einfach gemäss der Strategie «Prävention nichtübertragbarer Krankheiten» zu bewegen. Diese Empfehlungen sind relevant und nach wie vor das richtige Rezept.
Sportverbände befürchten massive Auswirkungen auf die sportlichen Aktivitäten und letztlich die Leistungsfähigkeit von Jugendlichen, weil die Trainingsmöglichkeiten über längere Zeit weggefallen sind. Teilen Sie deren Sorgen?
Ich kann sie nachvollziehen. Im Grunde waren Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre immer frei, Sport zu treiben. Aber gewisse Infrastrukturen waren geschlossen und nicht alle Vereine hatten die Energie oder die Ressourcen, um während des Lockdowns spezifische Angebote zu kreieren. Grundsätzlich besteht ein Risiko, dass man wegen der Pandemie Jugendliche in den Sportvereinen verliert. Trotz zeitweise mehr Freizeit bestanden deutlich weniger Freizeitangebote. Viele wichen auf Online-Aktivitäten aus, etwa auf ein Computerspiel anstatt Sport zu treiben. Ob sie zurück zum regelmässigen Sporttreiben finden, ist unsicher.
Welche weiteren negativen Folgen auf die Gesundheit sind aufgrund der Einschränkungen während der Pandemie sonst noch zu erwarten?
Die psychischen Auswirkungen der Einschränkungen sind ein grosses Thema, ebenso die Suchtproblematik. Man hat vor allem bei der älteren Bevölkerung wegen der Tendenz der Isolation psychische Probleme ausgemacht. Das hat man bei den Massnahmen im zweiten Lockdown angepasst. Auch bei den Lockerungen des Bundesrats auf den 1. März für Jugendliche ging es darum, psychische Folgen zu reduzieren. Abzuwarten sind auch Spätfolgen des Bewegungsmangels wie Diabetes oder Herz-/Kreislauf-Erkrankungen. Ich möchte aber betonen, dass die Schweiz im Gegensatz zu den umliegenden Ländern betreffend Bewegungsfreiheit während des Lockdowns ganz bewusst weniger restriktiv war. Es blieb stets möglich, nach draussen zu gehen, auch zum Skifahren im Winter. Das ist für mich ein sehr wichtiger Faktor aus gesundheitlicher Perspektive.
Tipps für mehr Bewegung und Fitness während Corona
Auch während der Pandemie kann man sich Bewegungsziele zu Herzen nehmen und im Rahmen der Einschränkungen umsetzen. Zum Beispiel ein täglicher Spaziergang im Wald und regelmässige Kräftigungsübungen zu Hause. Jede Steigerung der körperlichen Aktivität bringt einen zusätzlichen Nutzen für die Gesundheit. Das Bundesamt für Gesundheit bietet Empfehlungen für jedes Alter an. Kurze Videos mit praktischen Tipps sind neben erklärenden Texten finden Sie unter diesem Link.
Nicht zu vernachlässigen ist die psychische Gesundheit. Die Kampagne «Dureschnuufe – zehn Schritte zur Pflege der psychischen Gesundheit» bietet Tipps und Tricks, um während der belastenden Zeit geistig gesund und fit zu bleiben. Die Informationen finden Sie unter diesem Link.
Speziell tückisch ist das Bewegungsmuster vieler Menschen im Homeoffice. Um den Folgen von stundenlangem Sitzen vorzubeugen, dient die Kampagne «Aufstehen». Neben erklärenden Texten über Sinn und Zweck findet sich eine Reihe von einfachen Übungen, um die sitzende Tätigkeit von Zeit zu Zeit sinnvoll zu unterbrechen. Mehr dazu finden Sie unter diesem Link.
Eine ganze Bibliothek von Übungen für die Homeoffice-Fitness finden Sie unter diesem Link.