
Beizen zu, Läden offen: Warum der Bundesrat nur vorsichtig lockert – und dem Druck nicht nachgibt
Der 24. Februar also. Natürlich hatte sich auch Gesundheitsminister Alain Berset nicht ausmalen können, dass sich dieser Tag so sehr in sein Gedächtnis einbrennen würde, fest verknüpft mit der grössten Krise seiner Amtszeit.
Es war am 24. Februar des vergangenen Jahres, als Berset erstmals vor die Bundeshausmedien trat und über die Vorkehrungen im Kampf gegen ein «neuartiges Coronavirus» informierte. Man sei «gut vorbereitet», falls das Virus auch in der Schweiz nachgewiesen werde, sagte der Sozialdemokrat. Einen Tag später, am 25. Februar, sollte im Tessin der erste Schweizer Coronafall diagnostiziert werden.
«Ich hätte vor einem Jahr nie gedacht, dass es so lange dauert und wir heute mit Masken hier sitzen», räumte Berset ein, an diesem 24. Februar 2021, als er mit Bundespräsident Guy Parmelin (SVP) wieder vor die Medien trat.
Diesmal ist dieser Tag mit vorsichtiger Hoffnung verbunden – aber auch mit einem «nicht unwesentlichen Risiko», wie Berset mehrmals betonte: Der Bundesrat bleibt seinem eingeschlagenen Öffnungskurs treu und will schrittweise raus aus dem zweiten Lockdown.
Bereits am Montag kehrt ein Stück Normalität zurück. Folgende Lockerungen hat der Bundesrat beschlossen:
Der erste Lockerungsschritt
- Läden, Museen und Lesesäle von Bibliotheken dürfen wieder öffnen, ebenso die Aussenbereiche von Zoos, botanische Gärten und Freizeitanlagen. Auch Sportanlagen im Freien – wie etwa Kunsteisbahnen – sind wieder zugänglich. Für all diese Orte gelten Maskenpflicht, Abstandsregeln sowie Kapazitätsbeschränkungen.
- An der frischen Luft dürfen sich wieder 15 Personen treffen – aber nur Familien und Freunde. Veranstaltungen wie Versammlungen oder Quartierfeste sind untersagt.
- Schon heute geniessen Kinder und Jugendliche gewisse Privilegien im Kultur- und Sportbereich. Die Altersgrenze wird nun auf 20 Jahre angehoben.
Dieser erste Öffnungsschritt geschieht in etwa so, wie angekündigt. Im Vorfeld der Bundesratssitzung hatten allen voran die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände ein Powerplay aufgezogen: Sie forderten frühere Öffnungen etwa von Gastrobetrieben.
Der Bundesrat kommt diesen Kritikern ein Stück weit entgegen. Die zweite Öffnungsetappe soll bereits am 22. März erfolgen, nicht erst am 1. April. Dabei geht es um Lockerungen bei der Homeoffice-Pflicht, bei Veranstaltungen im Kultur- und Sportbereich, der Fünfer-Regel oder auch Terrassen von Gastrobetrieben. Eher überraschend kommt, dass der Bundesrat sogar die vollständige Öffnung von Restaurants und die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts an Hochschulen prüfen will.
Allerdings: Diese Lockerungen erfolgen nur, wenn sich die epidemiologische Situation in den nächsten Wochen positiv entwickeln wird. Der Bundesrat will seinen Entscheid auf Richtwerte abstützen. Dazu zählen die Positivitätsrate, die Auslastung der Intensivbetten, die Infektionszahlen und der R-Wert. Zwar handelt es sich nicht um einen Automatismus, die Werte sind aber relativ streng formuliert und der Bundesrat wird wohl daran gemessen werden.
Berset sagte, dass bereits der erste Öffnungsschritt mit Risiken verbunden und die Situation nach wie vor heikel sei. Er verwies darauf, dass die Zahl der Neuinfektionen nicht mehr sinke und nannte es «beeindruckend», dass die Prognosen der wissenschaftlichen Taskforce eingetroffen sind. Diese sagte im Januar voraus, dass sich das ansteckendere, mutierte Virus ab Mitte Februar in den Fallzahlen bemerkbar machen werde. Der Anteil der Virusmutation an den positiven Tests liegt bereits bei 60 Prozent. Von einer Trendwende wollte Berset indes noch nicht reden: «Wir wissen es nicht», so der Gesundheitsminister. Und schob nach: «Trotzdem bleiben wir optimistisch.» Mehrfach betonte er die Fortschritte beim Impfen.
Die mahnenden Worte dürften auch Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer nicht entgangen sein. Der oberste Gastronom glaubt offensichtlich nicht an die Öffnung der Restaurants am 22. März. Platzer polterte: «Der Gastro-Lockdown ist reine Symbolpolitik und soll das bisherige Staatsversagen kaschieren.»
Gehässige Rektionen und ein Appell des Bundespräsidenten
In den vergangenen Tagen hatten sowohl einige Kantone wie auch Wirtschaftsverbände teilweise deutlich schnellere Öffnungen gefordert. Gar eine Mehrheit der Kantone hatte sich für eine Öffnung der Restaurantterrassen bereits ab dem 1. März ausgesprochen. Dies wäre aus ihrer Sicht «angesichts des geringen Ansteckungsrisikos im Freien vertretbar gewesen», hiess es bei der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) auch gestern. Dass der Bundesrat darauf verzichtet, erklärte Berset mit der «fragilen epidemiologischen Lage». Und Parmelin betonte: «Diese schrittweise Öffnung ist notwendig».
Fragen aber bleiben: Warum erfüllt der Bundesrat den ausdrücklichen Wunsch der Kantone nicht? Und welchen Wert hatte dann überhaupt deren Konsultation? Darauf angesprochen, verwiesen die Bundesräte wortreich auf andere Punkte, bei denen man den Kantonen entgegengekommen sei. So berücksichtige etwa die Verkürzung der Frist bis zum zweiten Öffnungsschritt explizit deren Anliegen.
Die GDK stellte sich denn auch hinter die Beschlüsse des Bundesrats. Man stützte die «vorsichtige und schrittweise Öffnung», betonte sie in einer Mitteilung. Eine «national abgestimmte Vorgehensweise ohne kantonale Differenzierungen» sei bis auf Weiteres sinnvoll.
Signale der Einigkeit allenthalben? Nicht alle Reaktionen fielen derart freundlich aus. Namentlich Wirtschaftsverbände wie Economiesuisse («die Regierung nimmt langfristige Schäden in Kauf») oder der Gewerbeverband («zögerliches und konzeptloses Massnahmenbündel») zeigten sich enttäuscht. Und nicht nur in den sozialen Medien ist die Stimmung gehässiger, die Coronamüdigkeit spürbarer denn je.
Sich dessen bewusst, bat Bundespräsident Parmelin die Bevölkerung schon fast demütig um Unterstützung. Auch er wisse, dass viele Leute nicht glücklich seien mit den nun getroffenen Entscheiden, sagte er. Dass für viele die Schritte nicht weit genug gingen. Aber Kritikern gab Parmelin zu bedenken: «Regieren bedeutet, politische Entscheidungen zu treffen, die nach bestem Wissen und Gewissen dem Gemeinwohl dienen.»