Wenn ich gross bin, werde ich Meerjungfrau

Welche anderen Zukunftswünsche hätte Klein-Rahel auch haben können, nachdem sie sich «Arielle – Die Meerjungfrau» öfter angesehen hatte, als sie an ihren Fingern abzählen konnte? Dass ich Beine anstelle von Flossen hatte und unter Wasser nicht länger als ein paar Sekunden die Luft anhalten konnte, hatte mich nicht daran gehindert, an diesem Traum festzuhalten. Immer, wenn es in den Sommerferien ans Meer ging, übte ich hartnäckig. Ganz so, als ob meine Beine zu Flossen würden, wenn ich nur genügend Zeit im salzigen Wasser zubrachte. Aber auch nach tagelangem Üben tauchte ich irgendwann nach Luft japsend wieder aus den Wellen empor. Und jedes Jahr übte ich ein bisschen weniger hartnäckig, bis der Traum der Meerjungfrau schliesslich verblasste. Die Antwort auf die Frage, was ich später denn einmal werden möchte, beinhaltete nicht länger Kronen und Schwanzflossen. Die Realität hatte mich eingeholt, zumindest ein bisschen.

Aber Bäckerin, Polizistin oder Lehrerin standen trotzdem noch nicht auf der neuen Berufswunschliste: Ich wollte Autorennfahrerin werden. Und das, obwohl ich mich im Grunde nicht für Autos interessierte, ich mochte bloss Geschwindigkeit. Auch dieser Wunsch verblasste, bis er nichts weiter als ein Eintrag in einem Freundschaftsbuch unter der Rubrik «Wenn ich einmal gross bin, werde ich …» war.

Mit jedem neuen Berufswunsch, der folgte, entfernte ich mich mehr von dem ursprünglichen Ziel, Meerjungfrau zu werden. Was nicht so schlimm war, weil Geld plötzlich eine Sache schien, die man haben musste, um zu überleben. Es schien mir, als müssten sich die Träume erst einmal hinten anstellen. Aber sind Träume wirklich dazu da, in einer zugesperrten Schublade im Dunkeln auszuharren, bis wir uns nach jahrelangem Geldverdienen endlich wieder ihnen widmen? Sollten wir nicht eher konstant auf diese Träume hinarbeiten?

Mir ist bewusst, dass nicht alle das Glück haben, ihren Traum zum Beruf zu machen – und Träume verändern sich. Trotzdem: Ich denke, hin und wieder würde es der Menschheit ganz gut tun, würden wir mehr Kraft und Zeit darauf verwenden, unseren Träumen ein Stückchen näher zu kommen.