
Lieber Alain Berset
Mit der Sympathie gegenüber Exponentinnen und Exponenten der nationalen Politik verhält es sich bei mir normalerweise so: Je mehr ich über sie weiss und je öfter ich sie reden höre, desto schneller tendiert sie gegen null. Erfreulicherweise bilden Sie, lieber Herr Berset, eine Ausnahme. Als ich am 28. Februar 2020 auf die Medienkonferenz wartete, in der Sie zum ersten Mal zu diesem elenden Virus informierten, googelte ich Sie und stellte erfreut fest, dass wir beide im besten aller Jahre (für Laien: 1972) geboren wurden. Ein guter Start, fand ich. Als Sie zu reden begannen an diesem Freitag, fiel mir auch wieder ein, was mir schon früher an Ihnen aufgefallen ist: Ihre Stimme. Eine äusserst angenehme Stimme. Und ein sehr elegantes Französisch. Und ein sehr geschmeidiges, charmantes Deutsch, mit dem Sie Ihre Bundesratskolleginnen und -kollegen – speziell die Deutschschweizer – oft richtig alt aussehen lassen. Da Sie zudem zur in unserem Land seltenen Spezies von Menschen gehören, die offenbar frei reden oder es zumindest so aussehen lassen können, war ich richtig begeistert von Ihnen.
Dutzende von Medienkonferenzen später muss ich sagen: Ihr Stil gefällt mir wirklich, Herr Berset. Sie tragen stets tadellose Anzüge und geschmackvolle Kravatten, im Sommer auch Hüte und Lederjacken. Hat jemals ein männlicher Bundesrat ein Tigeraugen-Armband getragen oder überhaupt Schmuck? Wurde je ein Bundesrat in der Berner Reitschule beim Biertrinken gesichtet, getarnt unter einem Kapuzenpulli? Unschlagbar sind Ihre dichten, dunklen Augenbrauen, die Sie gerne, wenn Sie nach einer Medienkonferenz eine speziell dumme Frage beantworten müssen, bei gesenktem Blick nach oben ziehen und ein Grinsen andeuten, bevor Sie in aller Freundlichkeit und Seelenruhe antworten. Damit bringen Sie mich zum Lachen. Viel wichtiger als alles andere ist jedoch, dass Sie kein Selbstdarsteller sind. Ich glaube Ihnen, dass Sie ernsthaft darum bemüht sind, dieses Land so unbeschadet wie möglich durch diese Pandemie zu bringen. Ob die getroffenen Massnahmen die richtigen sind, wissen wir alle immer erst nachträglich. Halten Sie durch und lassen Sie sich nicht verrückt machen. Wir brauchen keinen neuen «Mister Corona», wir brauchen Alain Berset.