
Ein letztes Mal zu Besuch – wenn Angehörige in einem Altersheim sterben
Ein Familienmitglied in einem Alters- oder Pflegheim zu haben, das ist in diesen Tagen und Wochen keine einfache Sache. Geschlossene Türen wegen eines Covid-Ausbruchs, Besuche – wenn überhaupt – nur kurz und auf Distanz sowie weitere Massnahmen schränken das Familienleben ein. Besonders schwierig wird es, wenn ein Familienmitglied im Heim im Sterben liegt. Darf ich es besuchen und mich verabschieden? Wenn ja, für wie lange? Darf ich ein letztes Mal umarmen? Fragen, die sich auch Susanne Stalder aus Aarwangen gestellt hat. Seit viereinhalb Jahren wurde die Mutter der 58-Jährigen im «Sennhof» in Vordemwald gepflegt. Zuvor betreute und pflegte Stalder ihre Mutter mit Unterstützung der Spitex während rund sechs Jahren im eigenen Haus. Am 29. November verstarb die 93-Jährige im «Sennhof». Dass Susanne Stalder und ihr Bruder die letzten Stunden ihrer Mutter miterleben konnten, war ein Zufall, wie sie erzählt. Denn ihre Mutter war am Coronavirus erkrankt, welches seit dem 13. November im «Sennhof» wütet. Über 30 Bewohnerinnen und Bewohner sowie 20 Mitarbeitende wurden angesteckt (wir berichteten).
Schliessung der Heimeim Frühling war ein Schock
Bereits Ende Oktober merkte Susanne Stalder, wie ihre Mutter immer schwächer wurde, «einfach nicht mehr so konnte», und viel schlief. Als sie am 13. November wieder zu Besuch wollte, sah sie die Absperrung zum Neubau mit dem Hinweis «1. Corona-Fall».«Da dachte ich mir: ‹So, jetzt ist dasVirus hier.›»
Vor der Pandemie besuchte Stalder ihre Mutter, sooft es ging, auf dem «Sennhof». Während dieser Zeit lernte sie das Pflegepersonal im Alters- und Pflegheim kennen, sprach ab und zu auch über private Angelegenheiten mit den Pflegenden und lernte deren Hintergründe kennen. «Wenn jemand in ein Alters- oder Pflegeheim geht, bekommt er in meinen Augen eine neue Familie mit den Bewohnern und dem Personal», erzählt Stalder. Auch bei ihrer Mutter sei das so gewesen. Als im Frühjahr 2020 das Virus immer näherkam, war es für die Aarwangerin klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es auch bei uns Einzug halten wird. Mit ihrer Mutter sprach sie immer über die möglichen Konsequenzen, um vorbereitet zu sein. «Am 14. März konnten wir ihren Geburtstag noch in kleinem Rahmen feiern.» Am 16. März sei dann die Meldung gekommen, dass es besser sei, die Heime für Besuche zu schliessen. Ein Schock für Susanne Stalder. Da sie ihre Mutter über die letzten zehn Jahre sehr eng begleitete, sei die Beziehung sehr intensiv geworden. Für sie hat der «Sennhof» in der Zeit genau richtig gehandelt. «Wir durften uns immer melden, um ein Update über die Situation zu erhalten, was wir dann auch etwa einmal pro Woche gemacht haben.» Ihre Mutter verstand auch, weshalb die Kinder nicht mehr vorbeikommen konnten. «Allerdings machte sie sich grosse Sorgen um uns. Deshalb liessen wir über das Pflegepersonal immer wieder ausrichten, dass es uns gut geht.»
Während des Lockdowns versuchte der «Sennhof» wie alle anderenHeime auch, den Kontakt aufrechtzuerhalten, was beispielsweise über Videotelefonie und später mit dem Besucherhäuschen gut funktionierte. «Ich hatte das Gefühl, dass sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt wurden.» Dennoch, die Zeit bis Anfang Juni, als Besuche wieder erlaubt waren, kam ihr sehr lange vor. Auch die Mutter freute sich, ihre Kinder wieder richtig sehen zu können. Stalder hatte da das Gefühl, dass ihre Mutter richtig aufblühte. Dennoch waren die Besuche nicht wie früher. Alles war auf Distanz und hinter Masken. Umarmungen waren nicht möglich, was Susanne Stalder und ihre Mutter aber nicht weiter störte.
Ende November erkrankte die Mutter an Corona
Im Zuge des Corona-Ausbruchs mussten auf dem «Sennhof» mehrere Abteilungen isoliert werden, Besuche waren nicht mehr möglich. Am 25. November schliesslich erhielt Stalder einen Anruf: Ihre Mutter musste mit Covid-Symptomen, genauer gesagt mit Husten, auf ihrem Zimmer isoliert werden. Nachts um 1 Uhr kam erneut ein Anruf: Der Pfleger im Nachtdienst hatte das Eindruck, dass es gut wäre, wenn die Angehörige vorbeikommen. Zusammen mit ihrem Bruder fuhr sie hin. Der Pfleger empfing die beiden in Vollmontur. Was Susanne Stalder im «Sennhof» antraf, war surreal: «Es war wie im ‹Krieg›, überall waren Absperrgitter und hingen Absperrbänder, damit man ja nicht am falschen Ort durchging.» Vor der Feuertüre zur Abteilung ihrer Mutter mussten Stalder und ihr Bruder Schutzbekleidung anziehen. An den Türen hingen Zettel mit der Aufschrift «Isoliert». Vor den Türen standen kleine Tischen mit Desinfektionsutensilien und Schutzanzügen. Bei der Tür zum Zimmer der Mutter angelangt, sahen sie, dass noch kein Tisch davor stand und kein Zettel hing. «Das Resultat des Tests war da noch nicht eingetroffen.»
Stalder und ihr Bruder verbrachten die Nacht bei ihrer Mutter. Die Pflegenden des Tagdienstes, der den Nachtdienst gegen 7 Uhr ablöste, waren erstaunt, dass die beiden da waren. «Sie sagten uns, dass es Mutter den Tag über eigentlich gut gegangen war.» Ihr Bruder ging darauf nach Hause, um Stalder später an der Seite der Mutter wieder ablösen zu können. Im Verlauf des Morgens kam dann das Ergebnis des Corona-Tests: positiv. «Im ersten Moment wusste niemand, was das nun bedeutet. Dürfen wir bei unserer Mutter bleiben. Oder müssen wir uns eventuell für immer verabschieden?»
Grosszügigerweise erlaubte die Heimleitung, dass sowohl Stalder wie auch ihr Bruder die Mutter weiter besuchen durften, da sie vor dem Eintreffen des Testergebnisses bereits bei ihr im Zimmer gewesen waren und die Mutter im Sterben lag. «Wären wir nach dem Testergebnis angekommen, hätten wir unsere Mutter kurz zehnMinuten sehen dürfen und hätten uns dann wieder auf den Weg machenmüssen. Das hätte mir wohl das Herz zerrissen.»
Sie verbrachte zwei Nächte an der Seite ihrer Mutter, bis sie verstarb. In der Zeit konnte sie die Pflegenden beobachten und mit ihnen sprechen. «Sie sagten mir, wie müde sie alle seien.» Neben dem Mehraufwand durch die Isolation kam auch Mehrarbeit wegen erkrankten Kolleginnen und Kollegen dazu. «In der Zeit habe ich viel nachgedacht und musste oft an die Pflegenden denken, die seit dem Beginn der Pandemie an der Front stehen.» Zum Druck bei der Arbeit komme ja auch die Belastung seitens der eigenen Familie hinzu. An Ferien war nicht zu denken, und auch private Kontakte mussten auf ein Minimum beschränkt werden.
Kein Verständnis für Corona-Leugner
Auch an andere Betroffene in ähnlicher Situation musste sie denken. «Wir hatten einfach Glück, dass wir vor dem Testergebnis da waren.» Andere müssten sich in wenigen Minuten von ihren Liebsten verabschieden. Ältere Personen, deren langjährige Lebenspartner im Heim seien und die sie täglich besuchten, können diese nun plötzlich nicht mehr sehen. Auch wenn die Pflege viel macht – «mehr, als man von ihnen verlangen könnte» –, den Kontakt und die Anwesenheit von Angehörigen können sie nicht ersetzen.
Langfristig helfe dem Pflegepersonal auch das Klatschen während des Lockdowns nicht. «Die Politiker sprechen grosszügig Gelder für alle möglichen Branchen, aber für die Pflegenden hat man nur ein bisschen geklatscht.» Stalder fürchtet, was passiert, wenn die Situation noch lange anhält. «Was ich mitbekommen habe, sind viele bereits an ihre physischen und psychischen Grenzen gekommen. Nur dank dem guten Teamgeist halten die Pflegenden noch durch.» Für Maskenverweigerer und Corona-Leugner hat sie kein Verständnis. «An diesen Demonstrationen treffen sich Jung und Alt, ohne dass auf irgendwelche Regeln geachtet wird.» Ein Hohn für Stalder, wenn sie an die Pflegenden und Angehörige von Covid-Erkrankten denkt. «Die sollten mal sehen, wie es in den Altersheimen zu- und hergeht, und welch enormen Einsatz das Pflegepersonal leistet.»