Uniprofessor kritisiert Pandemie-Massnahmen: «Das Gesundheitssystem kollabiert nicht»

Das Buch «Corona in der Schweiz» von Konstatin Beck und Werner Widmer (132 S., Eigenverlag) kann man gratis herunterladen unter www.corona-in-der-schweiz.ch.

An der Universität Luzern kam es wegen dem Online-Buch «Corona in der Schweiz» zu heftigen Diskussionen. In der Folge wies die Uni darauf hin, dass man an den Corona-Schutzmassnahmen festhalte und: «Der Schutz von Universitätsangehörigen und Dritten vor Ansteckung hat höchste Priorität.» Denn die Autoren Konstatin Beck, 58, Professor für Versicherungsökonomie und Staatswissenschaftler Werner Widmer, 67, kritisieren die Pandemiemassnamen. In ihrem «Plädoyer für eine evidenzbasierte Pandemie-Politik» schreiben die beiden, man habe zu sehr versucht, jeden Todesfall zu vermeiden. Beim Lesen stellen sich viele Fragen. Wir trafen die Autoren online zum Interview. Am Ende beschied Widmer, er wolle nicht zitiert werden, es sei zu sehr ein Streitgespräch gewesen.

Ihr Buch ist mitten in der zweiten, bzw. dritten Welle der Pandemie erschienen, täglich gibt es bis zu 100 Corona-Tote. Deshalb die Frage: Stehen Sie noch zu allen Aussagen in Ihrem Buch?

Konstatin Beck: Ja, wir haben das Buch im September fertig geschrieben und im November einen Anhang mit der neuesten Entwicklung angefügt.

Sie kritisieren, dass im Lockdown 5000 Menschen in Pflegeheimen ohne Coronavirus, aber ebenfalls isoliert gestorben sind. Was wäre besser gewesen?

Die Bewohner müssen Entscheidungsfreiheit haben. Man hätte zum Beispiel einen isolierten Covid-Flügel des Pflegheims einrichten können und einen, wo Besuche möglich sind.

Sie sagen, in der Coronakrise sei zu sehr am freiheitlichen Fundament der Schweiz gekratzt worden.

Ja, es wurde von oben verordnet. Als ich jung war, kam Aids auf, absolut tödlich. Der unfreie Ansatz wäre gewesen, dass alle nachweisen müssen, dass sie beim Sex Kondome benützen. Aber man informierte gut, man verordnete nicht.

An diesem Virus sterben die meisten aber nicht, da sinkt die Motivation, eine Empfehlung zu befolgen.

Die älteren Leute, die ein höheres Risiko haben, müssten sich selbst schützen, damit nicht die ganze Gesellschaft runterschrauben muss.

Dass sich einfach die Risikopersonen schützen sollen, tönt gut. Sie beide sind deswegen sogar gegen den Maskenzwang im öV. Aber die Idee funktioniert nicht: Auch in der zweiten Welle wurden manche Altersheime zu Infektionsherden.

Die Mortalität bei den Senioren ist aber immer noch tiefer als in der ersten Welle. Ein gewisser Schutz ist da.

Leider reicht das nicht. Diese Gruppen lassen sich nicht strikt trennen.

Da bin ich nicht unbedingt einverstanden. Viele Senioren sind sehr vorsichtig. Wenn die Jüngeren die Herdenimmunität erreicht haben, wäre das Problem gelöst.

Die Intensivstationen sind gerade massiv unter Druck. Was soll man tun, wenn der Platz nicht ausreicht?

Covid-Patienten sind im Durchschnitt 14 Tage auf der Intensivstation. Das heisst, wenn täglich eine konstant hohe Zahl an Patienten reinkommt, können nach 14 Tagen auch so viele wieder entlassen werden oder sie sterben.

Dann müssen wir hoffen, dass die täglichen Hospitalisationen nicht zunehmen. – Im Buch auf Seite 51 steht: «Beim Coronavirus war bald einmal bekannt, dass es bei Kindern und Jugendlichen kaum zu Ansteckungen kommt…» Doch die Studie Ciao-Corona mit der Seroprävalenz im Kanton Zürich zeigte, dass Kinder sich genau so oft anstecken, wie die regionale Bevölkerung.

Dieses Kapitel war im September fertig und das Wissen entwickelt sich halt laufend weiter.

Das letzte Kapitel haben Sie im November geschrieben.

Diese Informationen hatte ich damals nicht. Und wir konnten auch nicht das gesamte Buch überarbeiten. 

Auf Seite 72 erwähnen Sie bei der Errechnung der Mortalität ein Zürcher Altersheim, wo 40 Prozent keine Symptome gehabt hätten. Allerdings hat die Hälfte davon in den folgenden Tagen doch Symptome entwickelt, der Tagesanzeiger korrigierte das Anfang September. Da haben Sie auch nicht aktualisiert.

Stimmt. Diese Korrektur des Tagesanzeigers war mir nicht bekannt.

Weiter sagen Sie im Buch mit Blick auf die Woche 38, es gebe keine Übersterblichkeit im Vergleich mit 2019. Doch bis Anfang Dezember, Woche 49, waren 4000 Personen oder 6 Prozent mehr gestorben als 2019 zum gleichen Zeitpunkt und 4600 mehr als 2018. Wenn weiterhin täglich 100 Coronatote hinzukommen, haben wir Ende Jahr eine Übersterblichkeit von 6000 Toten.

Die Untersterblichkeit folgt erst nach der jeweiligen Welle.

Sie meinen, die jetzigen Coronatoten wären alle in den nächsten paar Monaten ohnehin gestorben?

Im September war die Übersterblichkeit der ersten Welle jedenfalls kompensiert. Jene, die an Corona sterben, sind Leute, die in den allermeisten Fällen am Ende ihres Lebens standen. Die Aufenthaltsdauer in Pflegheimen, wo es viele Tote gab, beträgt nur 1,5 Jahre.

Halten Sie die Schutzmassnahmen zumindest für die 60-Jährigen gerechtfertigt und jene, die Langzeitfolgen davontragen?

Wir kritisieren vor allem das Unverhältnismässige dieser Massnahmen. Der erste Lockdown verursachte einfach viel zu hohe Kosten.

Geht es nicht darum, dass die Wirtschaft sich erholen kann, Firmen neu gegründet werden, aber Tote nicht reanimiert werden können?

Wenn eine politische Massnahme drei Mal mehr kostet, als man üblicherweise bereit war ins gesamte Gesundheitswesen zu investieren, dreimal mehr als die Summe sämtlicher Spitalaufenthalte, Pflegeheime und Operationen, ist das wahrscheinlich nicht das Optimum. Man kann den Tod nicht um jeden Preis verhindern.

Sie argumentieren, man könne auch nicht jeden Lawinentoten verhindern und alle Berge verbauen. Das Schwierige bei der Pandemie ist aber, dass sie immer exponentiell verläuft, solange sie nicht zurückgeht. Lawinen sind nicht ansteckend.

In der Gesundheitsökonomie rechnet man mit den geretteten Lebensjahren. Wenn vor allem Leute in ihren letzten Lebensjahren sterben, ist der Effekt einer Massnahme gering.

In einer Tabelle listen Sie die unter-61-jährigen Erkrankten bis am 3. Oktober auf, welche eine Beatmung überlebt haben und somit möglicherweise Langzeitfolgen haben. Diese 190 Personen rechnen Sie hoch, in dem Sie für diese Zeit von 10 % Infizierten ausgehen. Das ist nicht möglich, nur die Westschweiz und das Tessin hatten so viele Infizierte in der ersten Phase. In Zürich waren es beispielsweise nur rund 1 % und bis zum zweiten Anstieg hat sich das wohl kaum geändert. Es wären eher zehn Mal mehr Personen mit Langzeitfolgen demgemäss.

In diesem Punkt mögen Sie recht haben.

Sie haben ein ganzes Kapitel über die Sterblichkeit geschrieben und sagen unter anderem, die Sterblichkeit sei im Sommer gesunken und «dürfte geringer sein als bei der Grippe 2015».

Ja, das sieht man aus den Meldungen des BAG mit den Infektionen und den Todesfällen.

Die Aussage ist unnötig verwirrend. Durchs vermehrte Testen wurden im Sommer viel mehr Infektionen entdeckt. Im Frühling nur eine von zehn wie man mit der Antikörpermessung später herausgefunden hat – aktuell werden etwa die Hälfte der Infektionen bekannt. Nur deswegen entsteht der Eindruck, es habe gemessen an den Infektionen im Sommer prozentual weniger Todesfälle gegeben. Im Nachhinein konnte man die Sterblichkeit von Covid-19 in der Schweizer Bevölkerung sehr genau berechnen anhand der Antikörper im Blut der Infizierten. Für den Kanton Waadt ergab dies eine Sterblichkeit von 0,7 Prozent, für Genf 0,6 und für Zürich 0,8.

Das erscheinen mir eher hohe Werte. Für das Buch fanden wir Angaben des US-Gesundheitsstatistikers John Ioannidis für Genf von 0,45 und Zürich von 0,5 Prozent. Was uns jedoch wichtig erscheint, ist das Folgende: Eine Zahl von zum Beispiel 0,7 bedeutet nicht, dass zwingend sieben Personen von tausend in der Schweiz sterben müssen. Selbst in der dritten Welle gelang es bis jetzt, die Senioren besser vor einer Ansteckung zu schützen, leider nicht mehr ganz so gut, wie im Sommer. Der entscheidende Punkt bleibt: Je mehr Ungefährdete sich infizieren, und je besser der Schutz der Vulnerabeln, desto besser für alle.

Es weiss keiner sicher, ob er zu den Vulnerablen gehört oder nicht. Was hätte die Schweiz angesichts der Pandemie Ihrer Meinung nach tun sollen?

Im März hatte man nur die schauerlichen Bilder aus Italien und wenig Informationen. Man hätte Massentests durchführen sollen, um die richtigen Todeszahlen zu erhalten. In den Monaten Juni, Juli wäre das möglich gewesen.

Was hätten Sie vorher, in der ersten Welle, gemacht?

Das war eine extrem schwierige Entscheidungssituation.

Sie kritisieren den Lockdown aber heftig.

Die besondere Lage ab 15. März kritisieren wir nicht, an keiner Stelle.

Sie kritisieren, dass die Ansteckungszahlen schon vor dem Lockdown gesunken seien, dass der Lockdown die Wirtschaft unnötig gefährdet habe, dass deswegen Leute einsam gewesen seien, dass der Bundesrat keine rechtliche Handhabe dazu gehabt habe, usw.

Nein. Am 15. März musste der Bundesrat irgendeinen Entscheid fällen und es war klar, dass jeder irgendwie falsch sein wird. Aber ab Ostern hätte man zu messen beginnen können und Krankheitsgeschichten erheben um das Virus kennen zu lernen. Das machte man einfach nicht.

Wollen Sie sagen, es sei zu wenig geforscht worden? Es wurde doch extrem viel untersucht und Sie kritisieren im Buch sogar, es sei zu schnell geforscht worden.

Dann sagen Sie mir wie viele Infizierten zwischen 20 und 50 einen schweren Krankheitsverlauf haben. Es gibt diese Zahl nicht!

Dazu laufen Studien, zum Beispiel die Zürcher Kohortenstudie von Corona-Immunitas. Aber was würde das Wissen jetzt gerade ändern? Man muss ohnehin die Spitäler vor dem Kollaps schützen.

Darf ich Sie auch etwas fragen? Wenn Sie die Infektionszahlen vom Frühling und mit jetzt vergleichen, dann sehen wir, dass wir zehnmal mehr Infektionen haben. Warum sind die Spitäler jetzt nicht komplett überlastet?

Im Frühling wurde eine von zehn Infektionen entdeckt, der Massentest im Kanton Graubünden ergab, dass man mit dem normalen Testen nun die Hälfte entdeckt. Effektiv gab es im Frühling also viel mehr Infektionen als bekannt waren. Zudem bekam man etwas Luft, weil die Therapien in den Spitälern besser und kürzer wurden und sich die Älteren wie gesagt noch nicht wieder gleich oft infizieren. Und trotzdem droht die Überlastung.

Pro Tag gibt es durchschnittlich 3300 normale Spitaleintritte in der Schweiz. Nun sind es 180 mehr. Setzen Sie das mal in ein Verhältnis.

Denken Sie wirklich, dass das Spitalpersonal übertreibt?

Nein, es gibt Einzelfälle. Manche Spitäler kommen an einem Tag an ihre Kapazitätsgrenze und dann gehen sie zu den Medien und diese verallgemeinern dann die Situation aufs ganze Land. Das System als Ganzes kollabiert nicht.

Wenn man weniger tut, wie Sie das fordern, dann steigen die Infektionen weiter und es gibt immer mehr Hospitalisationen.

Dann müsste man Massnahmen ergreifen, die das Wachstum wirklich verhindern.

Welche Massnahmen wären dies? Dazu schweigen Sie.

Wir sind nicht gegen alle Massnahmen. Aber jede Massnahme muss ins Verhältnis gesetzt werden zu dem was sie kostet und was sie bewirkt. Dieses Verhältnis war in der 1. Welle sehr schlecht. In der 2. Welle ist das Verhältnis besser. Man ist am Abtasten, wie viel man tun soll. Zwischen August und Oktober kamen Maskenpflicht und Online-Uni und trotzdem stiegen die Fälle wieder.

Sie reden im Buch viel von Eigenverantwortung. In Schweden setzte man stark darauf, aber mit der Zeit wird der Freiheitsdrang stärker. Wenn es kein Verbot gibt, verhält man sich wieder wie vorher. Betrunken Autofahren finden die meisten nicht gut und sind dann aber eines Abends doch versucht es zu tun. Wie wollen Sie die Pandemie ohne verpflichtende Massnahmen in den Griff bekommen?

Eben zum Beispiel, wenn die Altersheimbewohner sind für einen tiefen Schutz aussprechen könnten und damit auch auf einen Platz auf der Intensivstation verzichten würden. So könnte man die Stationen entlasten.

Nein, auf den Intensivstationen in Zürich liegt der Anteil der über 80-Jährigen bei nur sieben Prozent. Ein Drittel ist hingegen unter 60 Jahre alt.

(schweigt) Sie wollen von uns Massnahmen hören und gehen davon aus, dass man die Pandemie in den Griff bekommen muss. Warum hat man im Sommer die Bevölkerung nicht gefragt, welche Pandemiepolitik sie will? Vielleicht will sie gar keine Hochsicherheitsstrategie. Und die junge Generation wird den Schaden langfristig zahlen müssen.

Am Ende dieses Interviews frage ich mich: Wenn Sie keine Alternativen haben, ist es dann nicht obsolet ein Buch zu schreiben, in dem Sie alles kritisieren?

Wir kritisieren das unrealistische Ziel. Was ist, wenn kein Impfstoff kommt, der funktioniert? Was, wenn das Virus ständig mutiert? Dann haben wir diesen Zustand für die nächsten Jahre!

Sie wollen die Impfung nicht abwarten und statt dessen die Massnahmen jetzt schon aufheben?

Gut, man sieht, dass es jetzt vorwärts geht mit den Impfungen. Und es gibt realistische Möglichkeiten, die Pandemie so einzuschränken. Aber mit grösserer Arbeitslosigkeit geht auch zum Beispiel auch die Lebenserwartung zurück.

Es hätte so oder so einen wirtschaftlichen Schaden gegeben. Das sah man in Schweden deutlich.

Ökonomen argumentieren marginal: Etwas mehr von dem, weniger vom anderen. Dann hat man ein optimales Ergebnis. Nicht null Massnahmen, aber sanftere. Dass die Kinder wieder in der Schule sind, ist ein Riesen-Gewinn.

Die Schweiz fuhr bis jetzt den lockersten Kurs im Vergleich mit den Nachbarn. Am Schluss des Buches finden Sie dennoch: Selbst jetzt bei steigenden Zahlen seien Sie die Massnahmen nicht verhältnismässig.

Was hätte man bei der letzten Grippeepidemie machen sollen? Da starben auch viele!

Das kann man nicht vergleichen: Die ganze Bevölkerung ist gegen irgendein altes Influenza-Virus immun und es gibt weniger schwere Verläufe. Diese Epidemien enden jeweils von alleine. Beim Coronavirus geht man aktuell von einer Kreuzimmunität von anderen Coronaviren von nur 5 Prozent aus.

Unsere Hauptaussage ist einfach, dass man eine Vorstellung des Nutzens und des Schadens haben muss. Man darf die Nebenwirkungen nicht bagatellisieren. Auch wenn der Virus für eine bestimmte Gruppe sehr gefährlich ist, das bestreiten wir nicht.