
Grenzschliessung? «Viele Menschen sagten: ‹Das war schlimmer als im Zweiten Weltkrieg›»
Treffpunkt ist die alte Rheinbrücke. Wie ausgestorben wirkt die deutsche Seite von der Brücke aus an diesem frostigen Dezembermorgen. Wegen Pandemie geschlossen, heisst es auf einem improvisiert angebrachten Zettel beim «Haus Salmegg», dem ersten Restaurant nach der Grenze. Auch beim Zollamt nebenan ist keine Menschenseele zu sehen.
Der Aargauer Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati und die Lörracher Landrätin Marion Dammann posieren beim Grenzstein für ein Foto, bevor wir auf Schweizer Seite durch die Altstadt zum Rathaus spazieren.
Fototermin beim Grenzstein
Der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati und die Lörracher Landrätin Marion Dammann treffen sich auf der alten Rheinbrücke in Rheinfelden.
© Alex Spichale
Was für ein anderes Strassenbild hier: offene Restaurants, Läden mit Warengestellen draussen, ein Bierkutscher, der mit den Passanten schwatzt. Maske tragen die wenigsten. Die Regel hier ist situativ je nach Menschenmenge. Im Gegensatz zum deutschen Rheinfelden, wo in einem Zonenplan geregelt ist, wo Maske getragen werden muss.
Wir kommen im alten Rathaussaal an, den der Rheinfelder Stadtammann Franco Mazzi fürs Interview organisiert hat. Auf dem Weg gibt Mazzi den Gästen nebenbei ein Stück Stadtgeschichte mit, in der Österreicher fast mehr vorkommen als Schweizer und Deutsche zusammen.
Kleine lokale Geschichtskunde im Rathaus von Rheinfelden.
Stadtammann Franco Mazzi mit der Lörracher Landrätin Marion Dammann und dem Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati.
© Alex Spichale
Fürs Interview behält Landrätin Dammann die Maske auf, ihr Schweizer Kollege Gallati folgt ihr.
Frau Landrätin, für Deutschland ist die Schweiz Risikogebiet. Mit welchem Gefühl sind Sie über die Grenze gekommen?
Wie oft sind Sie in normalen Zeiten in der Schweiz?
Dammann: Relativ oft. Als Präsidentin der Hochrheinkommission hatte ich die letzten zwei Jahre auf beiden Seiten der Grenze einen intensiven Austausch mit meinen Schweizer Kollegen. Zudem komme ich natürlich auch als Privatperson regelmässig in die nahe Schweiz.
Herr Gallati, wann waren Sie zum letzten Mal in Deutschland?
Jean-Pierre Gallati: Das war am 2. Januar in Stuttgart, privat. Seither wegen Corona nicht mehr. In normalen Zeiten bin ich oft in Deutschland unterwegs. Dieses Jahr wurden aber alle grenzüberschreitenden Anlässe abgesagt.
Lörrach hat mit über 200 Ansteckungen auf 100 000 Einwohner einen Spitzenwert in Baden-Württemberg. Aber das ist relativ: Die Schweiz hat über 300. Können Sie den Unterschied erklären, Herr Gallati?
Gallati: Nein. Diese Zahlen sind sehr volatil. Das kann von Region zu Region rasch ändern, wie wir in den letzten Wochen gesehen haben. Natürlich können die stärkeren Massnahmen in Deutschland den Unterschied zur Schweiz teilweise erklären. Bei Lörrach spielt auch die Nähe zu Basel eine Rolle.
Ist die Schweiz verantwortlich für die vielen Coronafälle in Lörrach?
Deutschland hat rigoroser auf die zweite Welle reagiert als die Schweiz. Wie geht die Grenzbevölkerung damit um?
Dammann: Als bei uns der Teil-Lockdown kam Anfang November, haben viele Menschen bei uns ihre Freizeit in den Kanton Basel-Stadt verlegt. Das haben wir an der Verfolgung der Infektionen messen können. Darum sind wir Basel dankbar, dass dort später ebenfalls Restaurations- und Freizeitbetriebe geschlossen wurden. Die Kantone Baselland und Aargau haben unsere Bürger weniger frequentiert in den letzten Wochen; zumindest lässt sich das nicht anhand von Infektionszahlen festlegen.
Wünschten Sie sich generell strengere Massnahmen in der Schweiz?
Dammann: Das Vorgehen wäre für die Bürgerinnen und Bürger bei uns jedenfalls einfacher zu verstehen. Es gibt Stimmen, die sagen: «Warum schliesst ihr nicht die Grenze zur Schweiz? Dann wäre alles gut.» Aber das wäre zu kurz gedacht. Mit ähnlichen Bestimmungen wäre es einfacher, den Menschen in der Grenzregion die Massnahmen zu vermitteln, und Forderungen nach Grenzschliessungen kämen gar nicht erst auf.
Verstehen Sie die Anliegen Ihrer deutschen Kollegin, Herr Gallati?
Dann müssten Sie gemeinsame Regeln eigentlich begrüssen?
Gallati: Natürlich wäre es wünschenswert, wenn wir eine übergreifende, einheitliche Epidemie-Politik hätten. Aber es gibt nun mal eine Staatsgrenze, und deshalb ist das eher schwierig.
Schweizer Grenzkantone und süddeutsche Bundesländer kündigten in der gemeinsamen Hochrheinkommission an, die Pandemie stelle sie vor Herausforderungen, die sie – Zitat – «als grenzüberschreitende Partner nur zusammen bewältigen können». Was wollen Sie konkret tun?
Dammann: Wir streben an, uns über gemeinsame Schutzmassnahmen zu einigen. Weil das für die Bevölkerung besser nachvollziehbar ist. Gerade Menschen wie hier in Rheinfelden, die täglich über die Brücke gehen, ist es schwierig zu vermitteln, dass auf der einen Seite diese Regeln gelten und auf der anderen andere, obwohl wir die gleiche Pandemie bekämpfen. Die Regeln müssen ja nicht tupfengleich sein, aber wir sollten uns so weit annähern, dass der Unterschied kaum noch spürbar ist für die Menschen.
Wo sehen Sie Spielraum?
Dammann: Maske tragen, Abstand halten, drinnen wie draussen. Und dass man festlegt, ab welcher Infektionsstufe es zu welchen weiteren Massnahmen kommt. Dazu müsste man gemeinsam einen Katalog entwickeln. Die Bundeskanzlerin definiert die Grenze bei einer Inzidenz von 50, um weitere Massnahmen zu beschliessen. Jetzt sind wir schon bei 200 Ansteckungen auf 100 000 Menschen in 7 Tagen. Wenn wir nicht rechtzeitig handeln, kann die Gefahr bestehen, dass die Pandemie ausser Kontrolle gerät.
Gallati: Das schaffen wir ja nicht einmal in der Schweiz richtig. Der Aargau hat versucht, gemeinsam mit Nachbarkantonen zu agieren. Das ist uns zum Teil gelungen, aber in vielen Punkten eben auch nicht. Die Schweiz hat allerdings ein grundlegend anderes Konzept als Deutschland. Unser Epidemiegesetz sieht verschiedene Eskalationsstufen und Zuständigkeiten vor. In der aktuellen sogenannten «besonderen Lage» entscheiden vor allem die Kantone. Aber inzwischen sind die Infektionszahlen in den Kantonen wieder so hoch und ähnlich, dass man sich – wenn man sich einheitliche Massnahmen wünscht – die Frage stellen muss, ob der Bundesrat nicht wieder die «ausserordentliche Lage» ausrufen soll.
© Alex Spichale
Eines haben Sie gemein: Bundesländer und Kantone am Rhein wollen eine erneute Grenzschliessung wie im Frühling verhindern. Welche Erfahrungen machten Sie damals?
Dammann: Wir haben aus dem Lockdown einiges gelernt. Uns wurde deutlich vor Augen geführt, was wir eigentlich wussten: Süddeutsche und Schweizer sind so eng miteinander verbunden, beruflich wie privat, dass eine Grenzschliessung ein massiver Eingriff in unser Alltagsleben ist. Im Bürgerdialog haben uns viele Menschen klar gesagt: «Eine Grenzschliessung darf nie mehr passieren, das war schlimmer als im Zweiten Weltkrieg.» Damals habe wenigstens die Bahn noch an allen Stationen gehalten, im Lockdown nicht mehr.
Wie schätzen Sie die aktuelle Grenzsituation ein?
Dammann: Mit der 24-Stunden-Regelung bin ich sehr zufrieden. Diese erlaubt einen einigermassen normalen Alltag für die Menschen an der Grenze. (Anm. d. Red.: Wer in einem Grenzkanton wohnt, kann innerhalb eines Tages ohne Hürden ein- und ausreisen).
Schliessen Sie eine erneute Grenzschliessung aus?
Dammann: Momentan ja. Aber wenn die Massnahmen in der Schweiz und in Deutschland zu unterschiedlich werden, wird es schwierig. Wenn wir etwa Ausgangsbeschränkungen einführen, die Schweizer aber bei uns weiter Weihnachtseinkäufe tätigen dürften, wäre das nicht mehr nachvollziehbar für unsere Bevölkerung.
Heisst: Je strenger die Massnahmen in Deutschland und je lockerer in der Schweiz, desto grösser die Gefahr, dass die Grenze geschlossen wird. Das kann auch nicht in Ihrem Interesse sein, Herr Gallati.
Gallati: Niemand hat ein Interesse an einer Grenzschliessung. Vom Landkreis Lörrach bis Berlin genauso wenig wie von Aarau bis Bern. Uns würde es natürlich vor allem wegen der deutschen Grenzgänger treffen, die bei uns im Gesundheitswesen arbeiten.
Dammann: Seit dem 1. Dezember gilt bei uns, dass bei typischen Covid-Symptomen jemand automatisch in Isolation muss, und das gilt natürlich auch für die Grenzgänger, die dann in der entsprechenden Zeit in der Schweiz nicht mehr arbeiten könnten.
Haben Sie Szenarien, um einen signifikanten Ausfall von deutschen Arbeitnehmern in Aargauer Spitälern zu kompensieren?
Gallati: Nein, das können wir nicht kompensieren. Genauso wenig, wie man von heute auf morgen Fachkräfte ausbilden kann, welche Beatmungsgeräte bedienen und Coronapatienten auf der Intensivstation adäquat betreuen können.
Frau Dammann, verfolgen Sie die Corona-Politik in Bern eigentlich ebenso regelmässig wie die Entscheidungsfindung in Berlin?
Dammann: Natürlich gucken wir auf die Schweiz, indem wir uns über die hiesigen Medien informieren. Dabei stehen für uns Grenzkantone wie die beiden Basel oder Aargau im Vordergrund. Ich bin dankbar, dass wir den Austausch in Gremien wie der Hochrheinkommission pflegen und unsere nationalen Regierungen gemeinsame Bedürfnisse formulieren und Forderungen stellen können.
Ein heiss diskutiertes Thema sind die Skigebiete. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder warnt seine Landsleute davor, in die Schweiz zum Skifahren zu gehen. Sie auch?
Dammann: Diesen Aufruf muss ich zurzeit unterstützen angesichts unserer Zahlen. Wenn jemand in ein Risikogebiet in den Urlaub fährt, muss er sich im Klaren sein, dass dann die Quarantänebestimmungen greifen.
Fahren Sie selbst auch Ski?
Dammann: Ja. Oft in der Schweiz und manchmal in Österreich.
Aber diese Saison verzichten Sie, nehme ich an.
Dammann: Also mein Skiurlaub im März ist gebucht, diesmal in Österreich. Aber ich werde mich selbstverständlich an die Regeln halten. Ich kann es mir nicht leisten, in Quarantäne zu gehen. Also würde ich aufs Skifahren verzichten, wenn die Situation nicht besser wird, oder schauen, ob bei uns auf dem Feldberg noch ein Plätzchen frei ist. (lacht)
Herr Gallati, wie halten Sie es mit dem Schweizer Nationalsport?
Gallati: Ich bin zurückgetreten als Skifahrer.
Wo stehen Sie in der Coronadebatte ums Skifahren?
Gallati: Das ist ja schon fast eine Glaubensfrage. Ich weiss nicht, was gefährlicher ist: In einer Gondel zu fahren oder wie ich täglich mit dem Zug zur Arbeit nach Aarau.
Süsses Geschenk
Der Aargauer Gesundheitsdirektor übergibt seiner deutschen Kollegin eine Packung „Brändli-Bombe“ aus Aarau als Mitbringsel.
© Alex Spichale