Letzte Chance, um zu handeln: Nach der Standpauke des Bundesrats stehen die Kantone unter Zugzwang

Um 15.45 Uhr trat ein sichtlich besorgter Gesundheitsminister Alain Berset (SP) in Bern vor die Medien. Die Bundesratssitzung hatte länger gedauert als erwartet. Einmal mehr hatte sich die Landesregierung mit dem Coronavirus befasst. Und musste dabei feststellen, dass sich die epidemiologische Situation nicht so entwickelt, wie man sich das erhofft hatte.

Die Konsequenz daraus: Der Bundesrat hat einige landesweit geltende neue Regeln und Vorschriften für Skigebiete und Wintersportorte erlassen. Und er knöpft sich die Kantone vor, die umgehend handeln müssen.

Es sei «nicht gut», in welche Richtung sich die Fallzahlen entwickelten, sagte Berset. Nach dem Höhepunkt der zweiten Welle Anfang November seien diese einige Wochen zurückgegangen. Nun zeichne sich eine Plafonierung auf «einem sehr hohen Niveau ab». In einigen Deutschschweizer Kantonen seien sogar Anzeichen für einen erneuten Anstieg der Fallzahlen zu beobachten.

Aufgrund von Erfahrungen anderer Länder wisse man, dass in solchen Situationen ohne entschlossenes Handeln rasch eine Trendumkehr hin zu einem exponentiellen Wachstum der Fallzahlen drohe: «Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt eine sehr, sehr schlechte Idee», so der Bundesrat.

Besonders Deutschschweizer Kantone sind gefordert

«Wir sind Anfang Dezember überhaupt nicht dort, wo wir sein wollen», bilanzierte Berset. Man sei nicht mehr auf dem Weg, um das Ziel einer Halbierung der Neuinfektionen alle zwei Wochen zu erreichen. Man habe sich erhofft, an Weihnachten bei rund 1000 und im neuen Jahr bei 500 Neuansteckungen zu sein: «Davon sind wir weit entfernt.»

Sollten die Fallzahlen bis zu den Festtagen auf dem heutigen Niveau verharren, drohe im neuen Jahr die bis jetzt glücklicherweise ausgebliebene Überlastung des Gesundheitssystems. In einer Pandemie zeigten Massnahmen immer erst mit einer gewissen Zeitverzögerung ihre Wirkung: «Wir haben noch Zeit zu handeln, aber jetzt ist der letzte Moment dafür.»

Diese Botschaft richtete sich unüberhörbar an die Kantone. Besonders gefordert seien jene Kantone der Deutschschweiz, in denen die Fall­zahlen bereits wieder exponentiell anstiegen. Der Bundesrat habe die ­betroffenen Kantone noch am Freitag kontaktiert und dazu aufgefordert, «umgehend neue Massnahmen zu ergreifen». Man werde nicht abwarten, bis sich die Situation verschlechtert, mahnte Berset.

Bereits nächste Woche könnte der Bundesrat die Schraube anziehen

Den Kantonen bleibt nicht viel Zeit. Bereits am nächsten Dienstag trifft sich der Bundesrat erneut, um eine Lagebeurteilung vorzunehmen. Sollten Berset und seine Regierungskollegen zum Schluss kommen, dass die Kantone nur ungenügend reagiert haben, wird der Bundesrat nächsten Freitag neue landesweit geltende Regeln beschliessen.

Spezifische Vorgaben zu den einzelnen Massnahmen machte Berset den Kantonen nicht. Seit dem Ende der ersten Welle und der Rückkehr zur «besonderen Lage» im Juni sind in erster Linie die Kantone verantwortlich für die Eindämmung des Coronavirus. Doch Berset machte klar, welche Mittel sich bewährt haben. Er erwähnte die «entschiedenen Massnahmen», welche die Westschweizer Kantone vor einigen Wochen ergriffen haben: «Dort sehen wir jetzt, dass die Fallzahlen deutlich gesunken sind.»

Nach der bundesrätlichen Standpauke liefen die Drähte in den Kantonen heiss. Telefonschalten wurden angesetzt, manche Regierungen tauschten sich noch am Freitagabend aus. In den kommenden Tagen sei mit weiteren Schritten zu rechnen, hiess es vielerorts. «Zusätzliche Massnahmen stehen zur Diskussion», erklärte etwa der Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin (SVP). Die Kantone Aargau und Solothurn wollen am Montag über neue Massnahmen entscheiden.

Noch am Freitagabend reagierte Schaffhausen auf den Appell aus Bundesbern. Als erster Kanton führt er unter anderem eine Zwei-Haushalte-Regel ein: In den eigenen vier Wänden und in Restaurants dürfen sich weiterhin zehn respektive vier Personen treffen, neu aber nur noch aus zwei verschiedenen Haushalten.

Der Bundesrat beliess es hier bei einer Empfehlung. Auch Graubünden fährt das öffentliche Leben bis am 18. Dezember stark herunter. So werden Restaurants und Freizeitanlagen geschlossen, Versammlungen sowie Treffen mit mehr als zehn Personen verboten.

Die Gesundheitsdirektoren sind in einer schwierigen Situation

Ebenfalls schnell reagierte die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK). Noch während Bersets Auftritt in Bern liess eine Stellungnahme verbreiten. Man habe die «Aufforderung des Bundesrats» – manche sprechen da lieber von einem letzten Ultimatum – zur Kenntnis genommen, hiess es darin lapidar. Das bundesrätliche Massnahmenpaket unterstützt die GDK «grundsätzlich».

Die GDK rief in Erinnerung: Man habe «besonders betroffenen Kantonen erstmals Anfang August nahegelegt, weitergehende Massnahmen zu ergreifen». Der Satz ist freilich auch der Ausdruck einer gewissen Machtlosigkeit. Selbst wenn die 26 kantonalen Gesundheitsminister eine Einheitsfront bilden: In ihrer Kantonsregierung haben sie jeweils nur eine Stimme, mitunter müssen sie mit Gegenwehr rechnen, namentlich aus den Volkswirtschaftsdepartementen. Wie es hinter vorgehaltener Hand heisst, sind die Widerstände vielerorts wieder gewachsen.

GDK-Präsident Lukas Engelberger (CVP) preschte in seinem eigenen Kanton Basel-Stadt schon vor zwei Wochen mit strengeren Massnahmen vor, nachdem die Fallzahlen dort wieder angestiegen waren. Seit Tagen warnt er: Die aktuelle Entwicklung erachte er als «nicht gut genug». Auch am Freitag sprach Engelberger davon, wie «besorgniserregend» die Lage sei. «Noch immer ist das Personal in den Spitälern und den Heimen sehr stark belastet.» Nach den Signalen vom Freitag geht Engelberger «schwer davon aus», dass in den nächsten Tagen weitere Kantone folgen und ihre Massnahmen verschärfen werden.

Wie Bundesrat Berset sieht GDK-Präsident Engelberger derweil jedoch keinen Grund, wieder zurück in die ausserordentliche Lage zu gehen. Bund wie Kantone verfügten derzeit über sämtliche nötigen Instrumente, sagte er. «In der besonderen Lage können die Kantone weiterhin alle zusätzliche Regelungen erlassen, wenn sie dies für nötig erachten.» Die nächste ordentliche Sitzung mit Berset und dem GDK-Vorstand ist eigentlich erst im neuen Jahr angesetzt. Laut bundesratsnahen Quellen könnte nun aber noch in den nächsten Tagen ein ausserordentliches Treffen anberaumt werden. Dieses dürfte mitentscheidend sein, ob der Bundesrat am nächsten Freitag neue Massnahmen für die ganze Schweiz beschliesst – und den Kantonen das Heft aus der Hand nimmt.