
Deutsche wundern sich über uns widerspenstige Schweizer – und unseren Sonderweg in der Corona-Pandemie
Es ist nicht nur der «Schneekrieg», wie der «Spiegel» titelt, den viele Deutsche mit Verwunderung in das kleine, südliche Nachbarland blicken lässt. Trotz Appellen von Kanzlerin Angela Merkel und anderen europäischen Spitzenpolitiker will die Schweiz die Ski-Arenen über die Feiertage geöffnet lassen. Vor allem ist es die Coronastrategie der Schweiz, die in Deutschland mit Sorge beobachtet wird.
Während Deutschland sein Heil in ständig ändernden Massnahmen im Stile eines «Wellenbrecher-Lockdowns» sucht, hält die Schweiz seit Wochen an ihrer liberalen Coronapolitik fest. In Deutschland sind die Kneipen dicht, die Theater und Kinos und in den meisten Bundesländern auch die Sporthallen, doch die Zahlen stagnieren auf hohem Niveau. Derweil treffen sich die Einheimischen in der Berner Altstadt zum adventlichen Kaffee-Schwatz – und die Zahlen sinken auf wunderliche Art und Weise.
Mit die höchste Sterberate Europas
Allerdings befassen sich die deutschen Medien überwiegend kritisch mit der Schweizer Strategie. Die Coronazahlen waren mit die höchsten in Europa, die Sterberate ebenso, manchen Krankenhäusern drohte der Kollaps. Und auch wenn die Coronazahlen zuletzt gesunken sind, bewegen sie sich noch immer auf deutlich höherem Niveau als in Deutschland.
Die verheerenden Zahlen blieben ZDF oder ARD nicht verborgen. Die liberale, reiche Schweiz wird medial als Land dargestellt, wo die Gesundheit nicht in jedem Fall über das wirtschaftliche Wohl des Staates gestellt wird. «Wie es läuft, wenn man aus Rücksicht auf die Wirtschaft erstmal alles weiterlaufen lässt, kann man gleich nebenan sehen», moderierte die Journalistin der ARD-Sendung «Kontraste» im November einen dramatischen Bericht über die Schweizer Coronasituation an.
Die Folgen der laschen Politik seien heftig. «Inzwischen gibt es in der Schweiz keine regulären Intensivbetten mehr.» Die Reporter des Senders filmten vor allem aus dem Spital in Sitten, wo die Lage tatsächlich prekär war und es hiess, dass bei einem Mangel an Beatmungsgeräten im Zweifel gebrechliche, über 85-Jährige nicht mehr intensivmedizinisch betreut werden könnten.
Das deutsche Fernsehen im Ort der «Superspreader-Hochzeit»
Das ZDF schickte derweil ein Reporterteam ins appenzellische Schwellbrunn, wo sich eine Hochzeit im Oktober zum «Superspreader-Event» entwickelt hatte und die Reporterin meinte: «Viele halten Corona hier für ein Hirngespinst.» Etwas später hiess es in dem Bericht: «Laufen lassen, so lange es geht. Die Devise des Dorfes scheint die Devise der ganzen Schweiz.»
Zeitungen beäugen den Schweizer Weg vor allem mit Verwunderung. Das konservative «Cicero»-Magazin bat vorige Woche «Blick»-Chefredaktor Christian Dorer in einem Interview, das Schweizer Vorgehen zu erläutern. Dorer erklärte dem deutschen Magazin das Konkordanz-Prinzip, das «automatisch zu moderaten Lösungen» führe. «Wir haben keine Regierung mit einem Regierungschef, der die alleinige Verantwortung trägt und dann einfach befehlen kann, wie er das machen will.»
Die Zeitung «Welt» wartete innerhalb von nur sieben Tagen mit zwei widersprüchlichen Schlagzeilen über die Schweiz auf. «Das Scheitern der Schweizer Coronastrategie», hiess es am 19. November. Eine Woche später überschrieb die gleiche Autorin einen Hintergrundartikel in der selben Zeitung mit dem Titel: «Turnaround ohne Lockdown – was hinter dem Schweizer Mittelweg steckt.»
Zeitungen kritisieren Ueli Maurers «Güterabwägung»
Als zynisch stossen fast allen Medien die Einschätzungen von Finanzminister Ueli Maurer auf, der erläutert hatte, dass die Schweiz «bewusst ein gewisses Risiko eingegangen» sei, «weil wir eine Güterabwägung gemacht haben». Auch ein anderes Zitat des SVP-Magistraten wird immer wieder bemüht: «Wir können uns keinen zweiten Lockdown leisten, dafür haben wir das Geld nicht.»
In dieser Woche verglich der Berliner «Tagesspiegel» die Schweiz mit Schweden. «Die Eidgenossenschaft hat sich binnen weniger Wochen zu einem internationalen Brennpunkt der Corona-Epidemie entwickelt», stellt das linksliberale Blatt fest. Und wirft die Frage auf: «Wie kann die reiche, durchorganisierte Schweiz mit einem international herausragenden Gesundheitssystem so scheitern?»