
Der Aarburger Geschichtenerzähler Michel Spiess lebt in den Herzen weiter
Er erzählte Geschichten wie kein anderer. Er erweckte Sagen und Legenden zum Leben, machte Geschichte erlebbar. Er war das historische Gedächtnis von Aarburg und der Region. Nun ist die Stimme von Michel Spiess für immer verstummt. Er ist am 16. November im Alter von 66 Jahren – nach einem schweren Unfall während Renovationsarbeiten an seiner eigenen Liegenschaft – im Kantonsspital Aarau verstorben.
Michel Spiess hinterlässt eine grosse Lücke im Städtli – als Restaurator und Antiquar sowie als engagierte Persönlichkeit und Geschichtenerzähler. In einem Interview vor drei Jahren sagte er: «Der Tod macht mir keine Angst, der Geist lebt weiter.» Michel Spiess war spirituell. Er selbst nannte sich einen energetischen Menschen, der an die Energien und deren Zusammenspiel und die Ewigkeit glaubte. Mit dieser Einstellung ging er stets auch an die Arbeit mit den antiken Möbeln. Er restaurierte sie nicht nur mit Demut, Hingabe und Behutsamkeit, sondern auch energetisch.
Bei einem Glas Wein über Historie fabulieren
Michel Spiess hätte altershalber schon in den offiziellen Ruhestand gehen können. Er sagte aber immer, dass er nie werde aufhören zu arbeiten; so viel bedeutete sie ihm. Er arbeitete viel, vom Antiquitätengeschäft alleine konnte er aber nicht leben. Nach seiner aktiven Berufszeit wollte er sein Geschäft im Städtli zu einer Art Weinstube umfunktionieren. Mit Gleichgesinnten wollte er da bei einem edlen Tropfen zur Ruhe kommen, über Historie fabulieren, den Geist wachhalten.
Wer einmal in seinem Geschäft zur «Historischen Tafelrunde» eingeladen war, wird das nie vergessen. Stundenlang konnte man seinen Erzählungen lauschen. Ob als Kind oder Erwachsener, ob auf der Festung, im Städtli oder auf einer Vollmondwanderung: Michel Spiess schaffte es, mit seinen Geschichten die Menschen in seinen Bann zu ziehen und in eine andere Welt zu entführen. Er erzählte sie nicht nur, er lebte sie auch. Dieses Talent machte er sich zu Nutzen als Festungsführer, Städtliführer und Nachtwächter oder als Wanderführer über den Born bei Vollmond.

Ursprünglich wollte Michel Spiess Lehrer werden. Sein Vater aber war dagegen. Groll hegte Michel Spiess deswegen keinen. Er wuchs mit sechs Geschwistern in der Nähe von Willisau auf. Die Familie zog oft um. «Ich konnte nirgends richtig Fuss fassen. Viele Jahre quälte mich das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit», sagte er einst. Bei sich angekommen sei er erst mit 35. 1971 begann er eine Lehre als Möbelschreiner in der Wellis Möbelfabrik in Willisau und schloss diese 1975 ab. 1977 hängte er eine zweite Lehre bei der gleichen Firma als Innenausbauzeichner an.
Von 1979 bis Ende 1983 befand er sich auf Wanderjahren. 1984 kam er ins Städtli Aarburg – und blieb. «Ich habe mich in Aarburg verliebt», sagte er. Der Richtplatz auf der Festung oder der Platz vor der reformierten Kirche bedeuteten ihm viel. Hier kam er zur Ruhe, fand seine Mitte. Tätig war er zudem als Konservator des Heimatmuseums Aarburg. Er stand der Museumskommission als beratende Stimme zur Seite. Und er erhob auch seine Stimme, wenn es um den Schutz von alten Häusern im Städtli ging.
Mit seiner Ex-Frau hat er einen Sohn, Simon, ein begnadeter Musiker. Erst kürzlich durfte Michel Spiess sein erstes Enkelkind begrüssen. Der Mann mit den vielen Facetten stand Menschen als Wegbegleiter zur Verfügung, schenkte Suchenden Zeit und Gehör. «Krisenzeiten sind Wandlungszeiten, die uns reifen und wachsen lassen», war er überzeugt. Eines ist ganz sicher. Der Geist von Michel Spiess lebt weiter. In den Herzen und Köpfen all jener, die ihn erlebt haben und das Glück hatten, seinen Geschichten zu lauschen.

