Stephan Keller: «Auf die Visitenkarte nehme ich keine Rücksicht»

«Fussball-Professor» – gefällt Ihnen der Spitzname, den Sie im Umfeld des FC Aarau geniessen?
Stephan Keller: Ich habe davon gehört. Aber wie hat die AZ vom Spitznamen vernommen?

Er fällt immer wieder, wenn man mit Leuten im Brügglifeld über Sie redet. Also: Ist «Professor» für Sie ein Kompliment?
Die Bezeichnung steckt mich in eine Schublade. Und ich habe schon bei meiner Antrittspressekonferenz gesagt, dass ich viele Facetten mitbringe. Der wahre «Fussball-Professor» ist für mich Arsène Wenger, ein Trainer, den ich dafür bewundert habe für den Stil, mit dem Arsenal unter seiner Führung gespielt hat. So gesehen gibt es sicherlich schlimmere Spitznamen.

Ursprünglich ist ein Professor ein Wissenschaftler – ist Fussball eine Wissenschaft?
Fussball ist in erster Linie Chaos. Doch es gibt Daten, die sollte ein Trainer in seine Arbeit einbeziehen. Vorausgesetzt, er und sein Team sind in der Lage, die Daten richtig zu interpretieren. Glück und Pech gehören dazu. Eine Mannschaft muss aber in der Lage sein, ihr Schicksal selber zu bestimmen.

Früher hat man von Abwehr, Mittelfeld und Sturm gesprochen. Heute heisst es: Zone 1, Zone 2, Zone 3. Doch das Ziel im Fussball ist seit jeher das gleiche: den Ball im Tor unterbringen, mindestens einmal mehr als der Gegner.
Die Cambridge-Universität hat den Fussball schon um 1900 herum wissenschaftlich untersucht. Doch die Technik und die öffentliche Akzeptanz sind erst seit wenigen Jahren so weit fortgeschritten, dass die Wissenschaft im Fussball nun den Raum bekommt, den sie verdient.

Gibt es einen Trainer Ihrer Spielerkarriere, dem Sie nacheifern?
Nein. Das mag daran liegen, dass ich mindestens alle zwei Jahre einen neuen Trainer hatte und mit keinem eine längere Phase meiner Karriere verbinde. Ich hatte alle möglichen Typen. Viele Gute, von denen ich sicher etwas mitgenommen habe. Auch einige ganz Schlimme waren dabei. Ich erinnere mich an zwei Trainer, die hauptberuflich Lehrer waren. Die dürfte man heute nicht mehr auf Kinder loslassen, weder im Fussball noch in der Schule.

Warum sind Sie nach der Aktivkarriere Trainer geworden?
Erst einmal: Weil ich den Fussball liebe! Es gab Momente während der Aktivzeit, in denen ich mich danach sehnte, der Fussball-Bubble entfliehen zu können. Doch der Wunsch, in verantwortlicher Position etwas bewegen zu können, überstrahlte alles.

Als kritischer Zeitgeist müssen Sie die monetäre Entwicklung und der Werteverlust in der Fussballbranche doch anwidern.
Im Fussball ist es wie in anderen Branchen: Es gibt die Menschen, die wirklich Freude und Interesse am Job haben und darin ihre Berufung finden. Andere wollen sich nur bereichern. Wenn es mir beispielsweise als Börsenhändler um die Sache geht, lese ich nicht nur die «Financial Times», sondern vertiefe mich auch in das Lokalblatt aus Kanada, um dort die richtige Investition zu finden. Dann können mir die Beweggründe des Kollegen egal sein, wenn der sich für hunderttausende Franken auf Geschäftskosten amüsieren geht. Ich liebe das tägliche Tüfteln für den Erfolg. Ausserdem bin ich einfach gerne bei Wind und Wetter draussen!

Ist der Antrieb auch, es besser zu machen als Ihre früheren Trainer?
Klar. Das geht aber einher damit, dass ich als Sportler in allem einen Wettkampf sehe. Ich bin zwar kein verbissener Eile-mit-Weile-Spieler, da fliegt nichts durchs Zimmer, aber gratis lasse ich niemanden gewinnen. Wenn mich mein Sechsjähriger im Schach mit einer extra Dame besiegt, dann freut mich das riesig. In dem Fall kann ich Niederlagen akzeptieren.

Sie waren beim FC Aarau mit einer sechsmonatigen Pause drei Jahre Assistenzcoach. Wie schwer fiel es Ihnen, hinter den Entscheidungen Ihrer Chefs Marinko Jurendic und Patrick Rahmen zu stehen, auch wenn Sie es anders gemacht hätten?
Ich konnte mich mit den Dingen insofern identifizieren, dass ich jederzeit gerne in Aarau geblieben bin. Ich habe meine Erfahrungen aus Deutschland, Australien und Holland den Cheftrainern zur Verfügung gestellt. Am Ende aber, das geht mir nun genauso, ist es der Chef, der entscheiden muss. Jeder hat seine Kompetenzen zu akzeptieren.

Seit Sie Cheftrainer sind, fährt der FCA einen neuen, auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Kurs. War das Ende der Altstar-Strategie die Bedingung, damit Sie als Cheftrainer übernehmen?
Ich bin seit meiner Ankunft hier im Jahr 2017 der Meinung, dass sich der FC Aarau den Erfolg nicht erkaufen, sondern erarbeiten muss. Der FCA ist ein super Klub, breit abgestützt, beliebt bei grossen Teilen der Bevölkerung, gloriose Vergangenheit. Aber momentan ist man weit weg von den Duellen 1993 mit der grossen AC Milan.

Die Vergangenheit als Last.
Der FC Aarau ist aus Gründen dort, wo er ist. Das Portemonnaie ist für Challenge-League-Verhältnisse gut gefüllt, aber es gibt besser betuchte Klubs. Aarau muss sich einen Aufstieg erarbeiten. Der Unterschied zwischen 10 Millionen und 60 Millionen Budget widerspiegelt sich auf dem Platz. Der Rückstand von 6 auf 8 Millionen indes ist mit guter Arbeit wettzumachen. Mit unserem Präsidenten Philipp Bonorand haben wir einen Schaffer an der Spitze, der meine Ansichten teilt.

Der FC Aarau gilt als familiärer Klub. Zu familiär für eine bedingungslose Leistungskultur?
Im Gegenteil: Wenn sich die Angestellten von ihrem Arbeitgeber umsorgt fühlen und wissen, dass sie sich auch mal einen Fehler erlauben können, steigert das ihre Bereitschaft, für diesen Arbeitgeber an die Grenze zu gehen. Ich kann hier sehr viel von den Leuten fordern und tue das auch tagtäglich.

Anderes Thema: Dass Sie nach dem dritten Spieltag Captain Elsad Zverotic auf die Ersatzbank versetzt haben, sorgte für Irritationen. Wie hat sich die Massnahme auf das Verhältnis zu Zverotic ausgewirkt?
Überhaupt nicht, wir hatten und haben ein gutes Verhältnis. Indes verstand ich, dass er nicht in Stimmung war, mit mir Witze zu reissen. Ich habe ihm gesagt, er dürfe seine Enttäuschung drei Tage gegen aussen zur Schau tragen, danach erwarte ich vollen Fokus auf das nächste Spiel. Er hat durch seine Reaktion bestätigt, dass er ein Vorzeigeprofi ist und ich mit meiner Captain-Wahl richtig gelegen bin.

Als sich sein Ersatz Mats Hammerich verletzte, kehrte nicht Zverotic zurück in die Startelf, stattdessen spielte Petar Misic. Das wirkte, als habe der Verzicht auf Zverotic höchste Priorität.
Ich baue jede Startformation mit der Überzeugung, dass diese elf Spieler unseren Plan am besten umsetzen können. Auf die Visitenkarte nehme ich keine Rücksicht, es geht nur um Leistung. Ich versuche, alle Spieler gleichwertig zu behandeln. So investiere ich in die Beziehung zu Miguel Peralta etwa, der in dieser Saison nicht mehr spielen wird, gleich viel wie in die Beziehung zum Stürmer, der uns im nächsten Spiel zum Sieg schiessen soll.

Ist ein Spieler für Sie Befehlsempfänger oder Partner?
Uns vereint das Ziel, Spiele gewinnen. Ich mag mündige Spieler, ich war selber einer, der viel hinterfragt hat. Aber: Wenn ich die Spieler jeden Tag frage, wie sie es denn machen würden, verliere ich meine Autorität. Zudem müsste ich ihnen die Hälfte meines Lohnes überweisen, da dann ja die Spieler meine Arbeit machen würden. Viele wollen sich gar nicht viele Gedanken machen, sie brauchen Anweisungen, um sich nicht zu verlieren. Dort Sicherheit und Struktur zu geben, ist ein grosser Teil meiner Arbeit.

Seit dieser Saison trägt das Spiel des FC Aarau unverkennbar eine Handschrift. Das ist Ihr Verdienst.
Wie viele Spiele haben wir verloren? Gleich viele, wie wir gewonnen haben. Nach vier Monaten ist es zu früh für Bilanzen. Statistisch gehören wir europaweit zu den Mannschaften, die im Verhältnis zum Aufwand am schlechtesten wegkommen. Wir nützen nur 20 Prozent unserer Torchancen. Mittelfristig wollen wir uns jederzeit für den Aufwand belohnen.

In Ihrer Sprache heisst das: Spiele strukturell gewinnen. Was soll der Laie darunter verstehen?
Gewinnen, weil man in allen messbaren Belangen besser als der Gegner ist.

Wir sind gespannt! Stephan Keller – können Sie aus sich rauskommen? Einen Abend lang lachen?
Lustig: Die Menschen, die mich näher kennen und meinen Humor teilen, die haben immer eine glatte Zeit mit mir. Ich weiss, worauf Sie hinauswollen…

Sie gelten als unnahbar, als schwer greifbar und als unberechenbar.
Mir ist wichtig, dass mein näheres Umfeld, beruflich und privat, mich einschätzen kann. Jedoch: Ich hatte an Sponsoren- oder Fantreffen mit dem einen oder anderen FCA-Sympathisanten einen amüsanten Abend.

Kokettieren Sie gegen aussen mit Ihrer Nüchternheit, mit Ihren teilweise sogar zynischen Zügen?
So bin ich. Authentisch zu sein, ist mir am wichtigsten.

Ihre Frau und Ihre drei Kinder leben in Holland – belastet Sie das?
Wir sehen uns weniger, als es in einer harmonischen Familie sein sollte. Mein Sohn wurde schon gefragt, ob er geschiedene Eltern habe. Bei anderen Eltern und Lehrern müssen meine Frau und ich proaktiv klarstellen: Wir sind glücklich verheiratet, aber ich arbeite im Ausland. Dafür geniessen wir die gemeinsame Zeit umso intensiver.

Ist die räumliche Trennung von der Familie auch ein Vorteil – so gibt es für Sie im Alltag nur den FCA?
Als Cheftrainer kommt entweder der Fussball oder die Familie zu kurz. So gesehen ist es ein Vorteil, wenn mich abends um sieben Uhr niemand zum Nachtessen erwartet. In der Schweiz bin ich mit dem FC Aarau verheiratet.

…und wohnen in Zürich Tür an Tür mit Ihren Schwiegereltern. Sind Sie ein Traumschwiegersohn oder haben Sie Traumschwiegereltern?
Ich habe Traumschwiegereltern! Aber wir profitieren voneinander. Ich von Kost und Logis und sie, wenn undurchsichtige Versicherungsvertreter anrufen und ich auf Spanisch das Telefon abnehme.

Haben Sie und Ihre Frau sich eine Frist bis zum Ende der räumlichen Trennung gesetzt?
Ursprünglich waren es ab 2017 fünf Jahre, wegen den Unterbrüchen darf die Phase nun sicher bis 2023 dauern.

Das Jahr, in dem Ihr Vertrag beim FC Aarau ausläuft. Und danach?
Dann sehen wir weiter. Dass wir als Familie unseren Wohnsitz komplett in die Schweiz verlegen, ist schwer vorstellbar. Die älteren Söhne sind 18 und 16 und echte Holländer, sie gehen auf ein eigenes Leben zu. Wer sesshaft geworden ist, sollte schätzen, was er hat.

Zur Person


Geboren am 31. Mai 1979, absolvierte Stephan Keller seine fussballerische Ausbildung 1986–1999 bei den Zürcher Grasshoppers. Danach etablierte er sich bei Xamax, Kriens, dem FCZ und FC Aarau auf der Profistufe. Als U21-Nationalspieler war er Teil der «Titanen», die 2002 an der Heim-EM im eigenen Land in den Halbfinal vorstiessen. Unter Köbi Kuhn bestritt er drei A-Länderspiele. Nach Auslandstationen in Deutschland, Australien und Holland beendete er 2012 seine Aktivkarriere. Seit 2017 arbeitet Keller, dessen Familie in Holland lebt, wieder für den FC Aarau– seit diesem Sommer als Cheftrainer.

 

Der FC Aarau muss gegen GC auf Goalgetter Shkelzen Gashi verzichten
Die Coronafälle und die Quarantäne haben den Spielbetrieb des FC Aarau während 20 Tagen flachgelegt: Nach dem 2:2 gegen Kriens mussten die Partien gegen GC und in Chiasso verschoben werden. Die Mannschaft ist seit Mitte vergangener Woche wieder im Training, aber Fitness, Kondition und Formstand der Spieler sind unterschiedlich. Das führt dazu, dass es in der Startformation heute (20 Uhr) gegen GC die eine oder andere Überraschung geben wird. Momentan steht eine Personalie im Brennpunkt: Was ist mit Shkelzen Gashi? Warum trainiert der 32-jährige Mittelstürmer, der mit sechs Treffern die Torjägerliste in der Challenge League anführt, nicht mit der Mannschaft? «Gashi ist krank und wird Anfang Woche einen Arzt aufsuchen», sagt Aarau-Trainer Stephan Keller. «Dann wissen wir mehr. Gegen GC ist er nicht einsatzfähig.» Nicht einsatzfähig gegen die Zürcher ist auch der leicht verletzte Linksverteidiger Bryan Verboom. (ruku)

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