
Drei Länder, drei unterschiedliche Corona-Strategien: Schweden hat die Nase vorn


«Brutal», sagt die 70-jährige Schweizerin, die zwanzig Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt wohnt. «Die dürfen nicht mal mehr nach draussen. Wie im Gefängnis», fährt sie fort. «Hoffentlich kommen die bei uns nicht auf eine solche Idee.» Daran halten würde sie sich kaum, sagt’s und spaziert mit ihrem Hund weiter.
Die Anweisungen von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz sind wohl nicht nur der Ostschweizerin in die Glieder gefahren. Dieser hat seinen Landsleuten verboten, das Haus ohne triftigen Grund zu verlassen. «Jeder soziale Kontakt ist einer zuviel», sagt Kurz und fordert, private Treffen auf ein Minimum zu reduzieren. Diese Strategie ähnelt jener in Deutschland und unterscheidet sich von der Schweiz und noch mehr von jener, die Schweden seit Beginn der Pandemie bis anhin durchgezogen hat.
Schweden möchte Herdenimmunität
Drei Länder, drei verschiedene Strategien im Kampf gegen das Coronavirus. Während die Schweiz versucht, die Pandemie-Welle möglichst zu unterdrücken und gleichzeitig die Risikopersonen zu schützen, um dabei die volle Funktionsfähigkeit der Spitäler aufrecht zu erhalten, arbeitete Schweden lange Zeit in Richtung Durchseuchung und verzichtete auf einen kompletten Lockdown.
Freiwilligkeit war ein Teil der Strategie. Jetzt verschärft Schweden seine Massnahmen deutlich. Die härteste Strategie der dreien fährt aber Österreich, das im Februar mit den Skihütten-Partys in Ischgl das Virus in Europa mitgestreut hat.
Vergleicht man die aktuelle Situation in diesen Ländern, sieht man in der Schweiz einen seit zwei Wochen fortlaufenden Rückgang der Infektionszahlen bis auf aktuell 4560 Neuinfektionen in den letzten 24 Stunden. Virginie Masserey vom Bundesamt für Gesundheit sagt dazu: «Die Massnahmen beginnen, einen Effekt auf die Zahl der Neuinfektionen zu haben». Dennoch sei die Situation weiterhin besorgniserregend, der Reproduktionszahl, der R-Wert, zu hoch, der auf 0,81 gefallen ist. In Österreich steigt die Kurve der Neuinfektionen immer noch an, sie hat die Schweizer Rekordwerte von Ende Oktober aber bisher nicht erreicht.
Schweden liegt immer noch deutlich unter der Schweiz
In Schweden sind die Corona-Fallzahlen zuletzt deutlich angestiegen, auf rund 2000 Neuinfektionen täglich. International liegt das grösste nordische Land damit noch im unteren Mittelfeld und hat nur etwa einen Drittel der Fälle der Schweiz. Schweden liegt im Verhältnis auf dem Niveau Deutschlands und höher als die Nachbarn Dänemark und Norwegen. Gleichzeitig steigen die Todeszahlen, die seit dem Sommer sehr tief waren, und auch die Spitäler in Schweden spüren zunehmenden Druck.
Die Kurve der Hospitalisierungen steigt auch in Österreich und in der Schweiz weiterhin an, bei uns etwas abgeflacht. Was die Anzahl der Intensiv-Patienten betrifft sind die beiden Nachbarländer vergleichbar mit rund 500 Schwerkranken. Der Bund meldete gestern 542 Covid-19-Patienten in Intensivstationen, und auch, dass in einem Drittel der Kantone die Intensivbetten vollständig belegt seien.
Getestet wird in allen drei Ländern ähnlich viel
Getestet wird in der Schweiz, Österreich und Schweden zur Zeit etwa gleich viel. Allerdings ist die Zahl der Tests in der Schweiz in den letzten Tagen deutlich zurückgegangen auf gestern noch 19495. Auch die Positivitätsrate von ungefähr 25 Prozent ist in der Schweiz und Österreich ähnlich, die Dunkelziffer somit in beiden Ländern hoch. Schweden liegt mit einer Posititivitätsrate von 10 Prozent deutlich tiefer.
Wie die Schweiz hat auch Österreich Ende Oktober bereits strengere Massnahmen beschlossen. Zum Beispiel durften sich in Innenräumen nur noch bis zu sechs Personen treffen, draussen waren es zwölf. Und wo der Abstand nicht eingehalten werden konnte, galt Maskenpflicht im Freien. Die Regeln waren ähnlich wie in der Schweiz, sind jetzt aber deutlich härter.
Schweden zieht die Schraube an
Und nun hat die Regierung in Schweden Anfang Woche die Schraube angezogen und Verbote ausgesprochen – was dort im Zusammenhang mit Corona Seltenheitswert hat. Ab Freitag darf ab 22 Uhr kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden, am 24. November werden öffentliche Veranstaltungen auf bloss acht Personen beschränkt. Für Zuwiderhandlungen werden erstmals auch Bussen angedroht. Betroffen sind Theater, Konzerte, Demonstrationen und Sportveranstaltungen.
Hingegen gilt das Verbot nicht für Institutionen wie Bibliotheken, Schwimmhallen oder Schulen – und auch nicht für private Feste. Dafür hat Schweden ebenso wenig eine rechtliche Grundlage wie für die Schliessung von Geschäften oder Restaurants – und die links-grüne Regierung hat bisher auch keine Absichten an den Tag gelegt, das Epidemie-Gesetz entsprechend anzupassen.
Stattdessen geht Schweden weiterhin seinen Sonderweg mit Empfehlungen. Die Regierung hofft, dass die wenigen Verbote auf das Verhalten in allen Lebensbereichen abfärben, auch wenn das Gesetz keine Vorschriften macht. Man solle keine Abendessen mit Freunden abhalten und Einladungen absagen, erklärte Regierungschef Stefan Löfven mit dramatisch ernstem Gesichtsausdruck: «Dies ist die neue Norm für das ganze Land.»
Mittlerweile gelten für praktisch ganz Schweden – ursprünglich nur als lokale Massnahmen gedachte – verschärfte Empfehlungen. Diese gehen weit: Die Bevölkerung wird aufgefordert, nicht ins Café, Restaurant, Einkaufszentrum, in Museen oder Schwimmhallen zu gehen sowie den öffentlichen Verkehr zu meiden. Es ist also ein empfohlener Lockdown. Reagiert haben die Schwedinnen und Schweden bisher allerdings weniger gehorsam als noch im Frühjahr; volle Busse und Einkaufszentren zeugen davon. Deshalb, so Löfven, seine nun härtere Einschränkungen nötig.
In Schweden gibt es weiterhin keine Maskenpflicht
Dies gilt allerdings in einem Bereich nicht: Der Bevölkerung wird kein Mundschutz empfohlen, geschweige denn verordnet. Erst am Dienstag hat Staatsepidemiologe Anders Tegnell nochmals seinen Widerstand gegen Masken bestätigt – nachdem die WHO Schweden ermahnt hatte. Er beurteile Mundschutz «bisher nicht als notwendige Massnahme», so Tegnell. Es fehlten weiterhin genügend klare wissenschaftliche Beweise für den Nutzen von Masken in der Bevölkerung, so der Epidemiologe.
Und: Andere Länder mit Mundschutz-Zwang hätten dennoch hohe Ansteckungszahlen. Bei einer grösseren Anzahl schwedischer Forscher und Ärzte, aber auch in Kommentaren in den Medien wächst die Kritik an Tegnells Abwehrhaltung. Doch in diesem Punkt mischt sich die Regierung bisher nicht ein.
Interessant ist ein wissenschaftlicher Vergleich zwischen Schweden und seinen Nachbarländern, die auf einen befohlenen Lockdown gesetzt haben. Tegnell hatte immer gesagt, dass freiwillige Massnahmen gleich wirkten wie gesetzliche. Tatsächlich haben die Schweden ihr Verhalten selbstständig angepasst, was sich zum Beispiel im Vergleich der Mobilität zeigt, die etwa gleich viel reduziert worden ist.
Auch die Ausgabefreudigkeit war in Dänemark und Schweden ähnlich reduziert. So gab es also einen substanziellen freiwilligen Lockdown, die Verbreitung des Virus wurde aber in Schweden deutlich weniger gestoppt als in den Nachbarländern. Auch die Todesfälle waren höher. Es zeigte sich, dass sich in Schweden die Freiwilligkeit dazu führte, dass die 18 bis 29-jährigen weniger vorsichtig waren. Die vielen Todesfälle im Frühling erklärt Tegnell aber mit einem Fehlverhalten in Altersheimen, das habe man nun verbessert.
Schaut man die ganze Zeitdauer der Pandemie an, hat Schweden mit total 6225 Toten zwar beinahe doppelt so viele Corona-Todesfälle zu beklagen wie die Schweiz mit 3300 Toten. In Österreich sind es mit 1945 Todesfällen noch deutlich weniger.
Der Blick auf die Statistik zeigt aber, dass Schweden im Moment besser dasteht als Österreich und die Schweiz, die im Moment bei den bestätigten Neuinfektionen pro Kopf weltweit auf einem Spitzenplatz liegen. Welche Strategie dieser Länder die bessere ist, wird sich erst zeigen, wenn die Pandemie Geschichte ist.
Unbestritten ist, dass es Länder gibt, denen das Coronavirus weit weniger zugesetzt hat wie zum Beispiel Neuseeland, dessen R-Wert nie über 0,2 gestiegen ist. Eine abgeschottete Insel hat es allerdings einfacher mit der Strategiewahl.