Stramm links, angriffig, klassenkämpferisch: Wermuth und Meyer übernehmen bei der SP – vier Erkenntnisse

Die SP-Spitze hat sich quantitativ verdoppelt: Mit Mattea Meyer und Cédric Wermuth wählten die Delegierten der Sozialdemokraten erstmals ein Co-Präsidium. Auf die beiden entfielen 538 der 561 gültigen Stimmen. Die Aussenseiterkandidatur des Berner Parteimitglieds Martin Schwab blieb mit 23 Stimmen ohne Chancen.

Wermuth und Meyer folgen auf Christian Levrat, der nach zwölf Jahren von seinem Amt zurücktritt. Seine Nachfolge hätte eigentlich schon im Frühjahr geklärt werden sollen, wegen der Coronakrise verlängerte sich Levrats Amtszeit um ein halbes Jahr. Und die derzeit alarmierenden Ansteckungszahlen führten kurzfristig wiederum dazu, dass die SP den Parteitag auf digitale Kanäle verlegte.

Die Delegierten sassen zu Hause vor ihren Tablets und Laptops. Nur ein kleiner Kreis – die Parteispitze und Mandatsträger – versammelte sich in einer Basler Messehalle, in die sich die anderen digital einwählen konnten. Vieles, was einen Parteitag ausmacht, fehlte so. Begegnungen und Dynamik, ein Grundrauschen, die Atmosphäre natürlich. Normalerweise ist die Stimmung in der Halle ein zuverlässiger Gradmesser für die Lage einer Partei. Virtuelle Beifallsbekundungen wirken eher blechern. Das digitale Abstimmungssystem: mitunter langsam. Doch der Austausch von Argumenten, das zeigte dieser Parteitag ebenso, funktioniert im Netz erstaunlich unmittelbar.

Die Genossinnen und Genossen debattierten, fassten Parolen und wählten; soweit, so gewohnt. Erweitert wurde namentlich auch das SP-Vizepräsidium. Zu den Neugewählten gehören etwa Nationalrätin Jacqueline Badran und Juso-Präsidentin Ronja Jansen; sie stehen dem Duo Meyer/Wermuth nahe. Aber was heisst das qualitativ? Vier Erkenntnisse.

Angesichts steigender Coronainfektionen wurde der Parteitag digital durchgeführt. Vor Ort in Basel waren nur wenige.

Angesichts steigender Coronainfektionen wurde der Parteitag digital durchgeführt. Vor Ort in Basel waren nur wenige. © Georgios Kefalas/Key (Basel, 17. Oktober 2020

Alles eine Frage des Stils?

Es ist der frühe Siegeszug einer Generation: Die Zürcherin Mattea Meyer, 32, und der Aargauer Cédric Wermuth, 34, sind langjährige Weggefährten. Gemeinsam führten sie einst bereits die Jungsozialisten; er als Präsident, sie als Vizepräsidentin. Regelmässig fielen sie während dieser Zeit mit Provokationen und extremen Forderungen auf. Ein wenig klebt dieses Image bis heute an ihnen. Doch es gehört nun mal zum Jobprofil eines Juso-Chefs, verbal radikal aufzutreten.

Dass die beiden den Kapitalismus lieber heute als morgen überwinden wollen – geschenkt. Zumindest stilistisch aber hat das Duo nach einigen Jahren im Parlament eine Wandlung hinter sich: Sie treten sanfter auf, kommen zuweilen geradezu staatstragend daher. Dass sie den obligaten Parteitagspathos beherrschen, mussten sie niemandem mehr beweisen. «Wütend, aber hoffnungsvoll» seien sie. Auf die Hoffnung wollten sie aber nicht warten, so Wermuth in Basel. «Wir entscheiden uns, selbst die Hoffnung zu sein.»

Christian Levrat, der Ex-Gewerkschafter, leitete die Partei als erklärte Leaderfigur eher hierarchisch (zum Abschied gabs am Parteitag unter anderem kubanische Zigarren). Manche an der Parteibasis wünschen sich einen, wie sie es nennen, «partizipativeren Stil». Auch Meyer/Wermuth sahen sich im Vorfeld mit Befürchtungen konfrontiert, wonach sie mit ihren Getreuen die Partei faktisch kapern könnten. Sie wollten eben gerade nicht alles allein machen, entgegnen sie. Meyer: «Wir wollen mehr Leute einbinden.»

Inhaltlich geeint, heisst: stramm links

Im europäischen Vergleich ist die SP eine der am weitesten links politisierenden sozialdemokratischen Parteien. Ändern wird sich daran mit der neuen SP-Spitze nichts – eher im Gegenteil. Gegenwärtig präsentiert sich die SP, so scheint es, einheitlicher denn je. Die Bundeshausfraktion tritt homogen auf. Kritische Voten blieben auch am Parteitag aus.

In der Ära Levrat wurde die Juso, die sich früher oft öffentlichkeitswirksam mit der Mutterpartei angelegt hatte, quasi fester Teil des Parteiestablishments. Dass die Jungpartei einen festen Sitz im SP-Präsidium hat, ist ab sofort sogar in den Statuten verankert.

Inhaltlich haben Meyer/Wermuth nicht vor, sich zu mässigen. Klassenkampfrhetorik beherrschen sie aus dem Effeff. «Aufbruch» lautet ihr Claim, «herrschende Klasse» gehört fest zu ihrem Vokabular. Sie stehen für eine klassisch sozialdemokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Den Service public wollen sie massiv ausbauen, den Finanzplatz scharf regulieren. Die SP müsse zur «Partei der Klimagerechtigkeit» werden; ein neues Schlagwort. Gleichstellungsthemen werden sie mehr Priorität einräumen. Mit einer Öffnung in Richtung politische Mitte ist nicht zu rechnen. Der sozialliberale Flügel wurde zuletzt arg marginalisiert. Die sogenannte Reformplattform darf das wohltemperierte Abweichlertum pflegen.

Tritt ab: Christian Levrat stand während zwölf Jahren an der SP-Spitze.

Tritt ab: Christian Levrat stand während zwölf Jahren an der SP-Spitze.

© Georgios Kefalas/Key (Basel, 17. Oktober 2020

Aufs Ganze gehen oder Deals machen

Als Chefs einer Polpartei müssen Cédric Wermuth und Mattea Meyer zwischen den Extremen schwanken: Hier der idealistische bis ideologische Überbau, dort die pragmatische Realpolitik. Tatsächlich ist das neue Führungsduo bisher eher dafür bekannt, aufs Ganze zu gehen. So waren beide gegen den breitgetragenen AHV-Steuer-Kompromiss – den ihr Vorgänger durch alle Böden verteidigte.

Überhaupt: Christian Levrat wurde nicht ohne Grund «Dealmaker» genannt. Im Bundeshaus galt er als einer, der hart um Positionen feilschte, am Ende aber mit der Mitte so manche Allianz schmiedete. Dieses Bild wurde in den Parteitagsreden nochmals sorgfältig kultiviert.

Gelingt Meyer/Wermuth der Rollenwechsel? «Man muss in der Politik beides können: Kompromisse schmieden und aufs Ganze gehen», bekannten sie im Vorfeld. Am Parteitag selbst ging es naturgemäss um Letzteres. «Die Frage ist nicht, ob wir nun weniger radikal, ob wir pragmatischer werden sollen», fand Wermuth. Angesichts «von Klimakatastrophe, Ungleichheit und Nationalismus» sei es eben gerade nicht radikal, ein «Weiter so» zu hinterfragen.

Bewegungen als Chance und Störfaktor

Das führt zur Frage, wie das Führungsduo zu politischen Bewegungen steht. Wer in der Politik etwas auf sich hält, nennt sich heute Bewegung. Das tönt lässig, unkompliziert – und soll von inhaltlicher Konsequenz zeugen. Ob Klimastreik oder Frauenstreik, ob «Black Lives Matter» oder auch die Operation Libero: Sie alle machen sich auf der politischen Agenda bemerkbar. Inhaltlich mit Maximalforderungen operierend, sind Kompromisse ihre Sache nicht.

In diesem Spannungsfeld können Meyer und Wermuth viel gewinnen; aber auch verlieren. Denn ihre Sozialisierung und ihr junges Alter machen sie zum einen anschlussfähig für diese Bewegungen. Gleichzeitig könnten manche enttäuscht werden, wenn ihnen Kompromisslösungen nicht behagen – so bereits passiert in der Klimapolitik.

Klar ist: Das Duo will über SP-Kreise hinaus mobilisieren. Von einer eigentlichen Eingemeindung politischer Bewegungen mag es nicht sprechen. Meyer/Wermuth versprechen: «Wir wollen die SP zur politischen Heimat für engagierte Menschen machen.» Ihr Ziel sei es, ein «parlamentarisches Sprachrohr» für die Anliegen dieser Bewegungen zu werden.

Und dass die erstarkenden Grünen im linken Lager die SP vielleicht mal überholen könnten? Diese Frage schnitten Meyer und Wermuth am Parteitag mit keiner Silbe an. In den vergangenen Monaten entschärften sie jeweils cool, es gehe einzig darum, wo sich die Parteien in der Praxis ergänzen und gegenseitig stärken könnten. Eine grüne Vorherrschaft? Bloss Theorie, ein luftiges Szenario – noch.