Der Mensch, das Herdentier

7.30 Uhr. Mein Flug geht in drei Stunden. Ich liege noch im Bett. Seltsamerweise überkommt mich nicht das gelinde Gefühl der Panik. Vielleicht liegt es an der Erfahrung, dass bei EasyJet das Boarding in der Regel erst zehn Minuten nach Abflugzeit beginnt und ich dementsprechend noch mindestens dreieinhalb Stunden zur Verfügung habe. Dennoch hieve ich mich hoch. Ich will nicht den Moment verpassen, in dem sich alle Passagiere gleichzeitig für das Boarding anstellen und quer durch den Flughafen, dicht aneinander gepfercht eine Schlange bilden. Gestresste Eltern schreien ihre Kinder an, dass sie gefälligst in der Reihe bleiben sollen. Eine Oma murmelt gehässig vor sich hin. Irgendwo weint ein Baby. Und ich sitze abseits auf einem der Wartestühle, den Kopf in ein Buch gesteckt. Aber ich lese nicht. Fasziniert bleibt mein Blick an der Familie hängen, die bereits ihre Reisepässe und Bordkarten gezückt hat, obwohl sie frühestens in zehn Minuten dran ist. Mit vollbepackten Händen versuchen die Eltern einen imaginären Schwertkampf der beiden Kinder zu schlichten. Kopfschüttelnd lasse ich meinen Blick weiterschweifen. Ein Pärchen streitet sich. Wobei es viel eher so ist, dass sie mit ihm streitet. Seinem Blick nach zu urteilen, versteht er gar nicht, worum es geht. Als sich die Schlange auf eine Zahl von fünf Passagieren reduziert hat, klappe ich das Buch zu und schlendere gemütlich zur lächelnden Mitarbeiterin, deren Weste so orange leuchtet, dass sie jedem Verkehrshütchen Konkurrenz macht. Während ich ihr meine Unterlagen reiche, denke ich: Würden die Leute es doch nur ein bisschen gemütlicher nehmen. Was bringt dieser selbst erzeugte Stress denn? Wären wir nicht alle ein bisschen glücklicher, würden wir ein paar Mal mehr tief durchatmen? Mit einem Lächeln auf den Lippen warten, statt ständig die Uhr zu checken? Aber was weiss ich schon? Achselzuckend nehme ich meinen Ausweis wieder entgegen und lebe weiter meinen Prä-Corona-Traum. Der vorgeschriebene Sitzplatz wird bis nach der Pandemie auf mich warten.