Systemrelevant im falschen System

«Klatsch – Klatsch – Klatsch.» So tönte es im März von den Schweizer Balkonen, als dem Pflegepersonal für seinen unermüdlichen Einsatz an vorderster Front gegen Covid-19 gedankt wurde. Der eine oder die andere klatschte sicher auch für die anderen «Systemrelevanten». Was im Ausland gut ist, soll in der Schweiz schliesslich nur recht sein! Medienwirksam angeführt von allem, was sich selbst Promi nennt – oder 300 Follower auf Instagram hat – klatschte sich das Volk die Finger wund. Ein-, zweimal zumindest für etwa eine Minute. Ganz Harte hielten wohl auch eine komplette Woche durch und klatschten jeden Tag. Heute, rund vier Monate später? Corona ist immer noch da, das Pflegepersonal kämpft immer noch an vorderster Front dagegen an und ihre Arbeitsbedingungen sind immer noch besch … Nach wie vor muss eine Person in der Nachtschicht bis zu 20 Betten betreuen – wie soll das patientengerecht sein? Das Ansteckungsrisiko ist für Pflegende wohl so hoch wie für sonst niemand. Möglichkeiten für Quarantäne bei negativem Test gibt es keine – schliesslich herrscht Fachkräftemangel. 

Leider hat sich das Klatschen nicht magisch in Münzgeklimpere im Portmonnaie der Pflegenden verwandelt. Auf Social Media haben die Solidaritätsbekundungen und Klatschvideos längst Ferienbildern Platz gemacht. Wer vor vier Monaten für seine Follower geklatscht hat, war in den letzten Wochen sicher am Creux du Van, Oeschinensee oder Caumasee anzutreffen und genoss dort die einmalig schöne Schweizer Natur. (Disclaimer: Dieser Beitrag erhält kein Geld aus dem 40 Millionen-Franken-Corona-Zustupf für das Marketingbudget von Schweiz Tourismus.) 

Auch die Forderungen nach besseren Ausbildungs- und Anstellungsbedingungen sind nicht mehr so laut, wie sie vor einiger Zeit noch waren. Die Hoffnung auf Besserung wurde schliesslich von all denen, die direkt am Drücker sitzen würden, ganz schnell zunichtegemacht. Die Lohnkosten seien bereits heute der grösste Anteil an den Gesundheitskosten, sagt der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren. Wer einen Pflegeberuf wähle, habe nicht primär den Lohn vor den Augen, sagt der Präsident des Zürcher Spitalverbands. Wie kann es das Pflegepersonal also wagen, mehr Lohn zu verlangen und so in Relation zu der getragenen Verantwortung anständig entlöhnt zu werden? Schliesslich haben wir doch extra für sie geklatscht. Reicht das denn nicht? Selber schuld, dass sie im falschen System systemrelevant sein wollen! Oder sollte ab und zu vielleicht doch eher der Mensch wieder in den Fokus rücken und die Kosten zur Nebensächlichkeit werden?