Liridon Balaj steht unter Strom

Sonntagabend in einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus am Dorfausgang von Aarau Rohr. Nachdem Liridon Balaj uns im dritten Stock die Tür geöffnet und ins Wohnzimmer geführt hat, tippt er mit der Sohle einen Ball neben das Sofa. 48 Stunden zuvor hat er damit im Brügglifeld drei Tore gegen Lausanne-Sport erzielt. Der Galaauftritt beim 5:4 gegen den Tabellenführer hat nicht nur bei den FCA-Fans Wellen geschlagen: Das Handy quillt über vor Nachrichten, im Kosovo küren die Zeitungen Balaj zum nächsten gelungenen Fussball-Export und bei Berater Leonard Berisha, der zum Übersetzen beim Interview dabei ist, haben die ersten höherklassigen Vereine ihr Interesse deponiert.

Mit 20 Jahren jung, aber nicht zu jung, günstig im Unterhalt, kühn im Dribbling, schnell, abschlussstark und voller Eifer, die einmalige Chance auf eine grosse Karriere zu nutzen: Balaj ist der Prototyp dessen, was die Klubs in der höchsten Schweizer Spielklasse suchen. Noch aber ist er mit Vertrag bis 2021 beim FC Aarau – mit Betonung auf noch! Also höchste Eisenbahn, den 1,72m kleinen und 65 Kilogramm leichten Balaj kennenzulernen, ehe er schon wieder weg ist.

Als im Februar 1998 der Kosovokrieg ausbricht, sind auch Balajs Eltern Rrustem und Kumrije unter denjenigen, welche die Heimat fluchtartig verlassen und in der Schweiz landen. Genau gesagt in einem Flüchtlingsheim in La Chaux-de-Fonds. Dort kommt kurz darauf Tochter Marigona zur Welt, ein Jahr später, am 15. August 1999, Sohn Liridon. Die Familie hofft zwei Jahre auf die dauerhafte Aufenthaltsbewilligung, ehe der Entscheid der Behörden negativ ausfällt und die Balajs weiterziehen. Nach Schweden. «Ich erinnere mich, wie ich mit anderen Flüchtlingskindern ums Haus gerannt. Die Sprache verstehe ich noch, mehr nicht», sagt Liridon, der in Göteborg den Kindergarten besucht. Doch vor der Einschulung der nächste Rückschlag: Auch Schweden weist die Balajs ab, die gezwungen sind, in den Kosovo zurückzukehren. Zum Glück befindet sich die Region nach den Kriegsgräueln wieder im Aufbau: Vater Rrustem findet eine Anstellung als Schreiner in Isniq, einem Dorf mit knapp 4000 Einwohnern, eine Autostunde von der Hauptstadt Pristina entfernt.

Mit zehn Jahren tritt Liridon seinem ersten und bis zum Wechsel nach Aarau einzigen Fussballklub bei, es ist der FK Besa aus der benachbarten Stadt Peja. Gegen den Willen des Vaters. Und: Anders als die meisten Fussballer aus dem Balkan hat Liridon kein Familienmitglied, das selber Fussball spielt, an dem er sich orientieren kann und das ihn fördert. «Ich habe mir alles selber erarbeitet. Begonnen hat es mit einem Spiel des FC Chelsea, das ich zufällig im TV gesehen habe.» Bereits mit 15 trainiert er im Profiteam des FK Besa, mit 16 folgen die ersten Einsätze. «Normalerweise haben junge Spieler im Kosovo einen schweren Stand und müssen lange warten. Der Captain aber stand auf meine Spielweise. Er hat mir den Spitznamen ‹Strom› gegeben, weil ich auf dem Platz immer unter Strom stehe.»

Die spektakuläre Spielweise fällt auch Leonard Berisha auf, als er im Herbst 2018 den Tipp erhält, ein Spiel des FK Besa zu besuchen. Berisha erinnert sich: «Es war ein weiter Pass hinter die Abwehr, innert zwei Sekunden nimmt Liri den Ball mit rechts runter und haut ihn mit links in den Winkel. Ich spürte sofort: Der wird ganz gross.»

 Die beiden führen mehr als eine Spieler-Berater-Beziehung, Balaj ist für Berisha «wie ein kleiner Bruder», über den er sagt: «Gib ihm einen Ball – und er ist zufrieden.» Als Liridon im Frühjahr 2019 bei diversen Vereinen in der Schweiz vorspielt, wohnt er bei Berishas Familie in Baar. Und seit August, als Balaj zusammen mit dem zweiten FCA-Kosovaren Donat Rrudhani eine WG gegründet hat, haben sie jeden zweiten Tag Besuch von Berisha. «Ich sorge dafür, dass er sich voll auf den Fussball konzentrieren kann. Liri hat sonst niemanden in der Schweiz. Leider hat die Schweizer Botschaft im Kosovo seiner Familie bis jetzt keine Besuche erlaubt. Mit der Begründung, dass sie befürchten, die Eltern und die Schwester würden in der Schweiz untertauchen, statt in den Kosovo zurückzukehren.»

Der Sohn erreicht, was dem Vater verwehrt wurde

Im besagten Frühling 2019 überzeugt Balaj im Probetraining beim FC St. Gallen. Kurz vor der Unterschrift aber machen die Ostschweizer einen Rückzieher, sie wollen den Platz im Kader lieber einem Spieler aus dem eigenen Nachwuchs geben. Also tritt Berisha an FCA-Sportchef Sandro Burki heran, der den Spieler für ein Testspiel gegen den FC Baden aufbietet. Mit seiner feinen Technik und dem Zug aufs gegnerische Tor sticht Balaj sofort ins Auge, auch die FCA-Verantwortlichen sehen das Potenzial zum neuen Spektakelspieler und leiten den Transfer in die Wege. Die Spielberechtigung aber erhält er erst Mitte August – Grund: Für die Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz muss Balaj als Bürger eines Drittstaats minutiös belegen, dass er zuvor im Kosovo mindestens ein Jahr als Profi gespielt hat. Als das Arbeitsamt das «Go» erteilt, ist nur einer noch glücklicher als Liridon: Vater Rrustem. «Die Schweiz ist für ihn das Paradies, er wollte unbedingt hier bleiben. Als er gehört hat, dass ich in der Schweiz spielen werde, war das für ihn der späte Trost 20 Jahre nach der Abweisung.»

Sprachbarriere, schlechter Saisonstart des FC Aarau und nach dem Debüt eine schmerzvolle Schambeinentzündung – Balajs erste Monate im neuen Umfeld verlaufen harzig. «Natürlich habe ich mir einen besseren Start gewünscht. Aber ich sehe den Wechsel nach Aarau als einmalige Chance, da gibt man nicht so schnell auf, sondern arbeitet einfach hart weiter.» Mittlerweile ist er angekommen und führt ein bescheidenes Leben zwischen Wohnung und Brügglifeld. Mit dem, was nach Abzug von Miete und Essen vom Lohn übrig bleibt, unterstützt Balaj die Familie im Kosovo.

Beim Rückrundenstart Ende Januar steht er erstmals in der Startelf, eine Woche darauf folgt die Torpremiere gegen Schaffhausen. Doch dann grätscht Corona in den Aufwärtstrend:  Über Nacht ist die Tagesstruktur weg, 2000 Kilometer entfernt von der Familie und ohne Mitbewohner Rrudhani, der zu seiner Familie ins Elsass zurückgekehrt ist, verbringt Balaj die Tage alleine in der Dachwohnung. Für ihn kein Grund, Trübsal zu blasen: Erst absolviert er seriös die Trainingspläne fürs Homeoffice und als auf der anderen Strassenseite der Platz des FC Rohr wieder freigegeben wird, trommelt Berater Berisha aus der ganzen Schweiz seine Spieler zusammen, mit denen Balaj an Technik und Torabschluss feilt. Resultat: Bei den Leistungstests im ersten Mannschaftstraining nach der Coronapause am 25. Mai schwingt er obenauf.

Spätestens seit seinem Hattrick vergangenen Freitag gegen Lausanne ist Balaj für die FCA-Fans der legitime Nachfolger von Varol Tasar. Er sagt dazu: «Ich habe von ihm gehört und mir gefällt, wie er spielt. Aber ich vergleiche mich mit niemandem.» Tasar hat vor einem Jahr den Sprung in die Super League geschafft und überzeugt bei Aufsteiger Servette – wann folgt ihm Balaj in die höchste Liga? Der Plan war, nach einem Jahr in der Challenge League mit dem FC Aarau die nächste Stufe Super League zu erklimmen. Doch trotz einer für den Verein enttäuschenden Saison kann Balaj sich einen Verbleib vorstellen. Sogar eine Vertragsverlängerung schliesst er nicht aus, noch sei diesbezüglich aber niemand auf ihn zugekommen. Wetten, dass sich dies bald ändert? Langfristig will Balaj nach ganz oben, Premier League, England, beste Liga der Welt, er sagt: «Sie ist beides: Traum und Ziel.»