
Keine Lehre aus der Leere
Es käme mir natürlich nie in den Sinn, öffentlich zuzugeben, dass ich nichts gegen eine zweite, dritte und vierte Corona-Welle hätte. Stellen Sie sich vor, was für einen Shitstorm man damit auslösen würde! Dabei bin ich ganz sicher nicht der Einzige, der die letzten Monate insgeheim genossen hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Nicht das Virus selbst sorgte bei mir für Entspannung, sondern der Lockdown – übrigens ein Ausdruck, der mir bis im März ehrlich gesagt nicht geläufig war. Die unzähligen Reportagen aus Flughäfen, Grossstädten, Bahnhöfen, Schulen, Hotels und Seepromenaden, in denen die Floskeln «beängstigende Leere» und «unheimliche Stille» nie fehlen durften, las ich bald nicht mehr. Mir schien die Leere von Anfang an befreiend und die Stille in höchstem Mass entspannend.
Nicht ganz ohne Schadenfreude stellte ich zudem fest, dass auf einmal die ganze Welt gezwungen war, ein Leben zu führen, wie ich es auch ohne Corona führe: Ohne Coiffeur, ohne Kino und Theater, ohne Restaurantbesuche, ohne Ausgang in Bars und Clubs, ohne Shopping-Touren am Samstag, ohne Grillabende mit Freunden und ohne Sport. Horror, nicht wahr? Leider verpasste der Grossteil der Menschheit die fabelhafte Gelegenheit, das unglaubliche Potenzial richtig tief greifender Langeweile zu erkennen und zu erforschen. Klar, es ist nicht auszuschliessen, dass man dabei zwei, drei Dinge über sich selbst gelernt hätte, die man vielleicht nicht so toll findet. Im besten Fall hätte man sogar eine Antwort auf die Frage finden können, weshalb einem Stille und Leere so sehr zu schaffen machen. Aber was rede ich da, jetzt, wo ja alles gut wird. Die Strassen und Bergbahnen sind wieder verstopft, in den Einkaufszentren ist die Hölle los, im Fitnesscenter, wo man die bewundernden Blicke anderer spürt, macht das Training endlich wieder Spass und in der Bar kann man sich am Feierabend endlich wieder in Gesellschaft Gleichgesinnter einen laden – wenn auch erst im Sitzen.
Bald ist wieder alles genauso wie früher! Aber sagen Sie, wollen wir das wirklich «Normalität» nennen?