Ungewöhnliche Grossratssitzung, ungewöhnliche Umgebung, und die Frage: welche Jobs sind wirklich wichtig?

Der 3000 Quadratmeter grosse Ratssaal in der Umweltarena Spreitenbach (Ardizzone)
Der 3000 Quadratmeter grosse Ratssaal in der Umweltarena Spreitenbach (Ardizzone)

Weil der Grossratssaal in Aarau in Corona-Abstandszeiten zu klein ist, tagt der Grosse Rat erstmals überhaupt in der Umweltarena in Spreitenbach. Da tröpfeln ab 9.40 Uhr die ersten Grossrätinnen und Grossräte in den 3000 Quadratmeter grossen Tagungssaal hin­ein. Sie treffen auf in langen Reihen und weit voneinander entfernt aufgestellte Einzeltische. Da wähnt sich Grossrätin Simona Brizzi (SP) ein bisschen wie an einer Maturaprüfung. Was auffällt: Ausser den Angehörigen des Parlamentsdienstes trägt praktisch niemand eine Maske. Sie ist auch nicht vorgeschrieben. Alle haben aber eine bekommen. FDP-Fraktionschefin Sabina Freiermuth spricht für viele, wenn sie sagt, man setze auf Eigenverantwortung, halte Abstand und Hygieneregeln ein. Das ist in der Tat durchgehend zu beobachten. Immer wieder formen sich kleine Grüppchen (gern in der Nähe der Kaffeemaschinen), aber mit gebührendem Abstand. Die Stimmung ist aufgeräumt, die Freude über den wieder anlaufenden Betrieb im Plenum greifbar. Werner Müller (CVP) sagt wieso: Es habe gewiss Kommissionssitzungen gegeben, in der Fraktion skypte man. Müller: «Aber den persönlichen Austausch ersetzt das nicht. Ich bin darum froh, dass wir wieder im Plenum tagen.»

Ein Spitzbub von der Ratspräsidentin

An ihren Plätzen erwarten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier je zwei Getränke und ein von Ratspräsidentin Saner offerierter Spitzbub als kleine Zwischenverpflegung. Saner mit Blick auf Landammann Markus Dieth und Landstatthalter Stephan Attiger augenzwinkernd: «Schliesslich haben wir auch zwei Spitzbuben aus dem Bezirk Baden in der Regierung.» Sie lobt die Gesundheitsinstitutionen in der Krise.

Über die Corona-Massnahmen der Regierung kann der Rat noch nicht entscheiden. Dafür ist es zu früh. Das Ratsbüro lehnte auch ein Extra-Traktandum zu Corona ab. Man wolle diese Themen erst in den Kommissionen beraten und dann im Rat aufnehmen, so Saner. Die Sitzung in Spreitenbach zeigt schon, dass es sehr viel zu reden geben wird. Allein am ersten Sitzungstag seit Corona werden 20 Vorstösse dazu eingereicht. Dann wird die Abstimmungsanlage getestet: Sie funktioniert. Der Test zeigt, dass man mit 138 von 140 Grossrätinnen und Grossräten in rekordhoher Besetzung tagt. Nur zwei fehlen.

SP: die Coronakrise zeigt, welche Jobs wirklich wichtig sind

Ganz ohne Corona geht es dann doch nicht. Als erstes dankt CVP-Fraktionschef Alfons Kaufmann Regierung und Verwaltung für all das, was in den letzten Wochen geleistet wurde, aber auch bei der Bevölkerung für ihr Mitziehen. Und SP-Co-Fraktionschef Dieter Egli sagt namens der SP, Corona zeige, wie anfällig unsere Gesellschaft ist, wie zerbrechlich unser Wohlstand. Es zeige auch, welche Jobs wirklich wichtig sind. Und noch etwas, so Egli: «Wenn es hart auf hart kommt, ist weniger der Markt gefragt als der Staat.» Eglis Erklärung ruft FDP-Fraktionschefin Sabina Freiermuth auf den Plan. Sie zeigt sich namens der FDP und SVP irritiert, habe man doch entschieden, auf Corona-Fraktionserklärungen zu verzichten.

Dann endlich geht der ordentliche Ratsbetrieb los. Und sogleich dreht es sich wieder um Corona. An zwei weit voneinander entfernten Rednerpulten, die nach jeder Wortmeldung desinfiziert werden, diskutiert man, ob eine Motion von links für eine bessere Unterstützung der in der Coronakrise sehr unter Druck gekommenen familienexternen Kinderbetreuung dringlich erklärt werden soll. Der Rat entscheidet gegen Dringlichkeit.

In der Debatte fällt auf, wie diszipliniert sich die Ratsmitglieder verhalten. Miteinander flüstern geht kaum, man müsste recht laut reden. Dann würden aber auch Unbefugte mithören, was man bespricht. So bleibt es im Plenum ungewohnt leise, nie muss Edith Saner intervenieren. Dafür und für die konzentrierte Arbeit gibt es von ihr ein verdientes Lob. Gar starken Applaus dürfen am Schluss Ratssekretärin Rahel Ommerli und ihr Team einheimsen, weil alles im provisorischen Ratssaal wie am Schnürchen klappt.

Wie geht es weiter? Die nächste Ratssitzung ist am 9. Juni. Ob diese erneut in Spreitenbach oder wieder in Aarau ist, entscheidet sich am 27. Mai – abhängig davon, ob der Bundesrat bis dann die 2-Meter-Corona-Abstandsregel beibehält oder nicht.